Freiheit, die ich meine
Freiheit, die ich meine

Freiheit, die ich meine

Plädoyer für einen konsequenten Liberalismus

Was ist Liberalismus und was nicht? Das Unverständnis über das, was Liberalismus ausmacht, ist groß und wird vom Missbrauch des Begriffs Kapitalismus noch übertroffen. Wenn Sie wissen, dass einer der Manchester-Kapitalisten, Richard Cobden, als Held der Armen („Champion of the poor“) verehrt wurde und ihm zu Ehren in vielen Städten Statuen errichtet wurden, dann gehören Sie zu einer kleinen Schar von Wissenden. Die Manchester-Kapitalisten besiegten mit ihrer Liga zur Abschaffung der Getreidezölle 1846 ein für allemal den Hunger in Großbritannien. Vorangegangen war eine Revolution, die verkürzt als Industrielle, zuweilen auch als Institutionelle Revolution bezeichnet wird. Tatsächlich veränderten nicht nur die Maschinen die Welt grundlegend, sondern vor allem die liberalen, bürgerlichen Ideen, darunter die vollkommen neue Würdigung der Unternehmer, von Handels und Geldverdienen. Der Kapitalismus brach sich global Bahn. Dieser Wohlstandsurknall hat bis heute die Lebenserwartung verdreifacht und das pro Kopf Einkommen verhundertfacht.

Liberale möchten, dass es den Menschen gut geht. Nicht mehr und nicht weniger. Liberalismus ist die Lehre des vielfältigen Nutzens für alle Menschen. Erforderlich ist lediglich die Einhaltung einiger Prinzipien – an erster Stelle die Unantastbarkeit von Leib, Leben und Eigentum.

Liberale schauen auf die Menschen als Individuen, auf ihre persönliche Fähigkeit, das Beste aus ihrem Leben zu machen, wenn man sie in Ruhe lässt und ihre selbst gesteckten Ziele mit ihren Mitteln auf individuellen Wegen verfolgen lässt. Das geschieht selten allein und vielfach verbunden mit Mitmenschen. Einige sind Bekannte aus dem persönlichen Umfeld, unzählige andere sind unbekannte Menschen verbunden über Märkte und diverse private und berufliche Netzwerke, zunehmend weltweit. Liberale wissen, dass für ein erfolgreiches Miteinander unterschiedliche Regeln erforderlich sind: die der Gemeinschaft für den überschaubaren Nahbereich, die der Gesellschaft für den Umgang mit Fremden. Sozialisten und andere Sozialingenieure wollen die Logik der Gemeinschaft, des Stammes, der Horde auf die Gemeinschaft übertragen und müssen brutal scheitern. Konservative stehen nicht nur historisch zwischen Liberalen und Sozialisten, sondern haben auch keine Prinzipien, um konsequent gleich entscheiden zu können. Warum solche Werte unveränderlich entscheidend sein? Liberale sind immer gegen Zölle und Mindestlöhne, aber für Privateigentum und maximale Machtbeschränkung.

Geboren im Befreiungskampf gegen autoritäre Herrscher sehnen sich Liberale nach Freiheit. Freiheit ist die erste und unerlässliche Bedingung für ein besseres Leben. „Die Freiheit hat einzig deshalb unschätzbaren Wert, weil sie unserem Geist angemessene Einsicht, unserem Charakter Stärke, unserer Seele Schwung verleiht.“ erkannte der Lausanner Staatstheoretiker und Politiker Benjamin Constant vor 200 Jahren. Herrschaft mindern und Gewalt verhindern ist die Voraussetzung, damit es den Menschen gut gehen kann. Friede kann nur auf Freiheit gebaut werden. Menschliche Würde und Glück sind untrennbar mit Freiheit verbunden.

Freiheit bedeutet handeln im Rahmen der Rechte und unter Berücksichtigung der Pflichten. Freiheit ist im Liberalismus erstens stets individuelle Freiheit, zweitens vorstaatlich – Freiheit muss nicht begründet werden, ihre Einschränkung hingegen schon – drittens staatlich zu schützen, aber viertens nur im Fall von Freiheitskonflikten einschränkbar. Schließlich ist Freiheit fünftens eine Frage des Verhältnisses zwischen den Menschen sowie zwischen ihnen und dem Staat. Der klarsichtige Publizist Roland Baader erkannte: „Das einzig wahre Menschenrecht, ist das Recht in Ruhe gelassen zu werden.“ In Verbundenheit mit Konservativen geht das Recht vor allem aus Konventionen hervor.

Eine Wiege des Liberalismus liegt in den politischen Kämpfen des 17. Jahrhunderts in England. Es war die Partei der Whigs, die gegen Willkür und für eine Bindung aller Menschen – insbesondere der Herrschenden – an das Recht kämpfte. Gegen Jakob I. und mit der Glorious Revolution und den Bill of Rights von 1688, der Gründungsakte des Parlamentarismus, gelang es zunehmend, eine Herrschaft des Rechts zu errichten. Die bürgerliche, kapitalistische Revolution um 1800 speiste sich aus diesen Ideen. Am Anfang stand das Streben nach Meinungsfreiheit, in deren Zentrum der Kampf um Religions- und Gewissensfreiheit, das sich auf die Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie die akademischen Lehrfreiheit ausdehnte. Ziel war stets die Verminderung der Macht von Menschen über Menschen. Die Sehnsucht nach Freiheit ist indes kein angelsächsisches Phänomen, sondern ein weltweites, zeitloses wie der Prager und der Arabische Frühling andeuten.

Die vielleicht größte Herausforderung der Liberalen ist der Staat. Der Zweck des Staates lässt sich in kantscher Tradition mit Wilhelm von Humboldt wie folgt zusammenfassen: Sicherung der Freiheit – Sicherheit der Bürger. Denn Sicherheit ist „das einzige, welches der einzelne Mensch mit seinen Kräften allein nicht zu erlangen vermag“ und „daß die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen“. Für konsequente Liberale kann die Aufgabe des Staates nur minimal sein: Sicherung der Freiheit durch Schutz von Leib, Leben und Eigentum. Darin unterscheiden sie sich von Sozialisten, Scheinliberalen und Konservativen. Die Instrumentalisierung des Gewaltmonopols für jeweilige Präferenzen verbindet die drei Gruppen und sei es im Fall staatlicher Bildung und Zuständigkeit für Infrastruktur. Zur Gewalt gehört auch geistige Gewalt und damit die Vielzahl von Vorschriften, die einer spezifischen Lebensweise dienen.

Der Unterschied zwischen Liberalismus im klassischen Sinn und Neo- und Ordoliberalismus sowie Sozialliberalismus und Scheinliberalismus liegt nicht in der jeweils enthaltenen liberalen Komponente, sondern in dem, was als nichtliberale Komponente hinzugefügt wird. Erstaunlicherweise bescheinigen sich selbst Sozialdemokraten und Sozialisten gerne eine liberale Haltung, etwa in gesellschaftlichen Belangen.

Leben wir in einer liberalen Welt? Herrscht – welch Widerspruch in sich – der Liberalismus? Liberale Aspekte gibt es in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, auch in Deutschland. Allerdings gilt: Das Euro-System ist nicht liberal. Liberale befürworten einen Wettbewerb der Währungen, auch Bankenfreiheit oder einen Goldstandard. Die EU ist nicht liberal. Liberale kritisieren die bürokratische, gleichmacherische EU und befürworten einen gemeinsamen Markt sowie zwischenstaatlichen Wettbewerb. Der Umgang mit der Massenmigration ist in Europa gleich dreifach illiberal: Weder Bürger noch Migranten werden hinreichend geschützt, zugleich wird ein Sog in Transfersysteme entfacht und alternatives Verhalten anderer Staaten diskreditiert. Schließlich war die Soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, sondern eine etatistische Mischwirtschaft, in der Anfangsphase gleichwohl ein Glücksfall.

Das Geschwätz vom Turbokapitalismus und Wirtschaftsfundamentalismus ist abstrus. Wer morgens mit der EU-Sommerzeit vom staatlichen, regionalen Radiosender geweckt wird, Wasser und Strom von den kommunalen Versorgern nutzt, subventionierte Agrarprodukte zu sich nimmt, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren, darf sich wundern, dass es überhaupt noch Unternehmer gibt, die bereit sind sich der regulatorischen Raserei auszusetzen. Kein Wunder, dass die Masse der jungen Generation nach einem gefahrlosen Staatsjob strebt.

Gleichwohl haben die Linken ein rechtes Gespür. Unsere Staats- und Wirtschaftsform ist längst die des Politischen Kapitalismus. Dieses spezifische System von Wirtschaft und Gesellschaft ist weder Marktwirtschaft noch rechtsstaatliche Demokratie, sondern eine Kooperation von politischen Eliten mit wirtschaftlichen Eliten und Führern von Nichtregierungsorganisationen zu ihrem Nutzen. Das institutionelle Gefüge setzt Anreize für eine exklusive, moralisierte Politik, die Menschen ohne Zugang zu den Fleischtöpfen und Regulierungsmaschinen schadet. Politischer Kapitalismus erlaubt der Elite Produktivität und Profit zu entkoppeln, Vorteile auf wenige zu konzentrieren und die Kosten vielen aufzuerlegen. Bis zu zwei Drittel des Bruttoarbeitgebergehalts gehen in Deutschland durch Steuern und Abgaben an den Staatsapparat. Das Problem sind nicht ungezügelte Märkte, sondern ist die ungezügelte Politik.

Liberale strebten stets danach, Herrschaft so weit wie möglich zu mindern. Herrschaft wird nicht besser, weil sie von vielen oder einem Einzelnen ausgeübt wird. Mit den Worten von Friedrich August von Hayek: „Der Liberalismus befaßt sich mit den Aufgaben des Staates und vor allem mit der Beschränkung seiner Macht. Die demokratische Bewegung befaßt sich mit der Frage, wer den Staat lenken soll. Der Liberalismus fordert, alle Macht, also auch die der Mehrheit, zu begrenzen.“

Konservative vertreten wiederholt Standpunkte, die Gemeinsamkeiten mit dem Liberalismus aufweisen. Zugleich gibt es unaufhörlich Anfeindungen. Der scharfzüngige Publizist Armin Mohler gilt manchem Konservativen als derjenige, der mit seiner Schrift „Gegen die Liberalen“ eine „fulminante Liberalenbeschimpfung“ vorgelegt und die Unhaltbarkeit liberaler Positionen nachgewiesen haben soll. Tatsächlich handelt es sich um eine recht passable Polemik, die sich gegen die übermäßig verbreitete Spezies der Bindestrich-Liberalen richtet, die regelmäßig allenfalls Lifestyle-Liberale sind, also liberal getarnte Sozialdemokraten. Konsequente Liberale werden an den Vorwürfen leider wenig Erhellendes finden. Die These, eine liberale Gesellschaft zehre von konservativen Werten, sitzt sowohl dem verbreiteten Vorurteil auf, eine liberale Ordnung sei werte- und traditionslos, als auch der Auffassung, Werte könnten Prinzipien ersetzen. Liberale sehen die Familie als Keimzelle prosperierender Gesellschaften an und betonen den Wert überschaubarer Gemeinwesen im politischen Wettbewerb mit einander. Der ehrbare Kaufmann ist ein Wertekodex, den Liberale gerne hoch halten. Albern wird es, wenn Armin Mohler argumentiert, „das Individuum gibt es gar nicht. Es ist eine Erfindung“. Diese Utopie konnten nicht einmal die Nationalsozialisten, geschweige denn die Sozialisten in Ost-Berlin verwirklichen. Die Feststellung, das liberale Feindbild seien die Konservativen, macht deutlich, dass Mohler die Grundsätze einer Ordnung der Freiheit nicht verstanden hat und mit Carl Schmitt polemisiert. Konservative können gerade in einer Ordnung der Freiheit prosperieren, ohne über andere zu bestimmen.

Als Leichtgewicht präsentiert sich demgegenüber Manfred Kleine-Hartlage, der mit linken Denkmustern über einen Selbstmord der liberalen Gesellschaft spekuliert. Angeblich seien sozialistische und liberale Ideologie zu einer seit 1990 dominierenden Metaideologie verschmolzen: „Was zwischen Liberalismus und Marxismus nicht umstritten sein kann, ist Konsens.“ Leider enthält das Buch keine Analyse, keine begriffliche Klarheit, keine fundierten Kausalzusammenhänge, dafür manche vage Korrelation. Störche fliegen, Kinder werden geboren. Wer sich ideologiefrei für den Entfremdungsprozess zwischen Politikern und den sie eigentlich beauftragenden Wählern interessiert, dem sei Wolfgang Sofskys „Macht und Stellvertretung“ empfohlen.

Auch der polnische Philosoph Ryszard Antoni Legutko, Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), kritisiert etwas als Liberalismus, das es gar nicht gibt: „Die liberale Praxis ist der Leninschen nicht unähnlich.“ Präsentiert werden Zerrbilder von ins Unkenntliche maltretierten Liberalen und ihrem von Legutko pervertierten Denken, darunter, Liberale würden die „res publica“ verabscheuen und die Demokratie vergötzen. Liberale trennen viel mehr die eng begrenzten öffentlichen Aufgaben von den vielen privaten. Das können Konservative, die Lebensstile und kollektive Identität propagieren, von sich nicht behaupten. Das Problem liegt tiefer: Einige Konservative misstrauen der dezentralen Evolution der Gesellschaft und letztlich dem Menschen selbst. Folglich suchen sie Stabilität bei höher gestellten Eliten und der Bewahrung von manchem, zudem wechselnden Gestrigen für alle durch den Gewaltmonopolisten.

Abschließend ein Wort für Globalisierungsgegner. Wer das Fortschreiten der freiwilligen Kooperation von Menschen über nationale Grenzen hinweg kritisiert, sollte eine Frage beantworten: Worin liegt der Unterschied, ob ich als Berliner mit jemandem aus Dehli, Sydney, Kapstadt oder Santiago wissenschaftlich zusammen arbeite oder Handel treibe im Vergleich zu jemandem aus Augsburg oder Cottbus? Eine Abschottung durch Blockbildung wie im Kalten Krieg ist gleichermaßen tragisch für die betroffenen Menschen wie töricht. Nationalistisches Getümmel, implizite Autarkie-Forderungen oder die Bildung eines sich abschottenden EU-Blocks führen zu einem nationalen oder internationalen bürokratischen Sozialismus, der nichts anderes als Sklaverei im Namen kollektiver Größe bedeutet. Der einzelne Mensch und seine Familie werden in solchen Aggregaten stets zur Verfügungsmasse.

Auch Liberale tun gut als Widerpart nicht nur den linken und rechten Sozialismus in all seinen Facetten zu erkennen, sondern den politisch organisierten Kapitalismus, den Verbund von Big Business und Big Government sowie NGOs.

Die Ausbreitung der Freiheit hat stets mehr Gutes gebracht als jedes kollektive Projekt. Die unabhängigen Bestrebungen vieler dürfen nicht den organisierten Interessen weniger geopfert werden. Es braucht mutige Männer und Frauen, die für die Freiheit eintreten und die Prinzipien hochhalten. Wir können alle frei sein und unsere individuellen und gemeinschaftlichen Werte behalten.

 

Quelle: Eine leicht gekürzte Version ist erschienen in: Junge Freiheit 48/19 22.11.19, 18.