Ein frischer Blick auf Politik
Politik, das ist die öffentliche Sache, die res publica. Das sind Themen, die Menschen, die in einem Siedlungsverbund zusammenleben, betreffen, verbinden und keine Privatangelegenheit sind, obwohl sie bis ins Privatleben hineinwirken. Sicherheit ist ein Aspekt der res publica, nach innen und außen. Die Durchsetzung des Rechts und die Entscheidung, was rechtmäßig ist, ist eine öffentliche Angelegenheit, zumindest, sobald das Privatrecht mit Schiedsgerichten nicht mehr ausreicht.
Von je her sind Menschen soziale Wesen und damit auch politische Wesen – zoon politikon nannte das Aristoteles in der griechischen Polis, dem Siedlungs- und Politikverbund, der Bürgergemeinde als Stadt und Staat.
Die Arbeitsteilung führt auch in den öffentlichen Angelegenheiten zu Spezialisierung, Professionalisierung, zu Beauftragungen, Bildung von Organisationen, die mit Machtfragen einher gehen. Das gilt für die Stellvertretung und für das direkte Entscheiden der Bürger. Macht lässt sich wesentlich als Fähigkeit betrachten, etwas gegen den Willen eines Mitmenschen zu erreichen.
Die Machtfrage geht im Lauf der Geschichte mit unterschiedlichen Ordnungen der res publica einher. Unterschieden wird anhand der Zahl der Herrschenden und ihrer Bindung an das Recht. In der Demokratie, so lernen wir von Kindesbeinen an, ist das Volk der Souverän, verfolgen die Politiker das Gemeinwohl, geht es in Aushandlungsprozessen um die besten und bestmöglichen Ziele, Mittel und Wege. Politik als Kunst des Möglichen oder das Gebot, das sachlich Notwendige zu tun. Die Mehrheit entscheidet und das sei gut und recht.
Quatsch. Ein Deckmantel, der für Stabilität sorgt. Ein Ideal, das unerreichbar ist. Eine zunehmend unzeitgemäß erscheinende, angestaubt und unaufgeklärt wirkende Erzählung. Das wäre die korrespondierende Perspektive nur von der gegenüberliegenden Seite. In Krisenzeiten und in Zeiten der Umwälzung ist das Narrativ der guten Politik auffälliger unzutreffend als in einer Phase der Prosperität. Aus liberaler Sicht trägt die Politisierung von immer mehr privaten Bereichen dazu bei. Das geht einher mit dem Problem der Zentralisierung und den schlechten Entscheidungen, die Politiker und öffentliche Verwaltungen im Vergleich mit denen der Bürger treffen (Experten-Staatsversagen), von der Wahl der Heizung und Transportmittel sowie Nahrungsmittel angefangen bis zum Umgang mit fundamentalen Herausforderungen wie den fünf Großkrisen: Euro, EU, Zuwanderung, Corona, Klima. Viele sind wesentlich politisch bedingt, alle werden von erheblichen Teilen der Bevölkerung als politisch mangelhaft behandelt angesehen. Andere Teile unterstützen indes die gewählte Politik. Der Schluss liegt nahe: Wer die Politiker als Problem ansieht, sollten von den Bürgern nicht schweigen.
Eine besonders fundierte Analyse und Kritik der überkommenen Auffassung von Politik hat die Public Choice Schule seit den 1950er Jahren entwickelt (siehe dazu meine Erläuterung). An dieser Stelle möchte ich nicht noch einmal darauf eingehen. Vielmehr sollen drei eigene, eigensinnige Publikationen im Mittelpunkt stehen, zwei von ihnen Klassiker. Zusammen sind sie geeignet einen frischeren Blick auf Politik zu werfen. Einige Anforderungen an eine bessere Politik werde ich abschließend andeuten.
- Politik als Ablenkung und Theater
Der amerikanische Politikwissenschaftler Murray Edelman (1919-2001) hält Politik überwiegend und wesentlich für Symbolpolitik. Das bedeutet insbesondere: Das, was wir alltäglich sehen und berichtet bekommen, ist weitgehend Theater für die Bürger und Inszenierung gegenüber der politischen Konkurrenz. Die reale Politik findet unserer Sicht entzogen hinter den Kulissen statt, in den Gesprächen, Vereinbarungen, Entscheidungen der Politiker, ihrer Parteien und insbesondere der Staatsbürokratie. Dabei erfolgt die Kommunikation vorwiegend über Symbole, wenig geht es um eine nüchterne Vermittlung sachlicher Gegebenheiten.
Ich kann diese Perspektive kurzhalten, da ich gerade erst in einem Beitrag ausführlich darauf eingegangen bin. Erwähnen möchte ich noch die Mythen und Riten, die die für Edelman die Essenz des politischen Symbolismus bilden. Wir werden dem Mythischen noch zwei Mal begegnen.
Hinweisen möchte ich schließlich erneut auf das Problem von Macht und Stellvertretung, weil Stellvertreter rasch nicht mehr die Interessen der sie Beauftragenden verfolgen (Wolfgang Sofsky).
- Spießer-Ideologie als Wegbereiter politischer Desaster
Eine mittelmäßige, klein- und eben spießbürgerliche Kultur zeigte der deutsche Kulturhistoriker Hermann Glaser (1928-2018) in seinem Zitate reichen Buch „Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert“ als Phänomenologie auf. Erstmals 1964 erschienen sorgte die Publikation für Aufsehen, zumal Glaser in der Spießer-Ideologie den Wegbereiter für die Nationalsozialisten sah, die er ähnlich wie Sebastian Haffner 1940, ohne das vermutlich zu wissen, als charakterlich, menschlich und bürgerlich piesige, biedere, kleingeistige, tricksende Zivilversager ansah. Hitler als „Hühnerauge“ (Haffner) und „böswilliges Rumpelstilzchen“ (Glaser). Glaser sieht Hitler im Grunde als geistig-kulturelle Flachpfeife (102ff.)
Spießer würden in ihrem a-politischen Verhalten vor der Wirklichkeit in eine innerlich reine und schöne Welt fliehen. Sie zeichneten sich selbst durch „absolute Charakterlosigkeit und den Mangel an jeder Kultur aus.“ (S. 62) schreibt Glaser im Zusammenhang mit der Romantik. Kleinbürger seien (Vorwort) „medioker und provinziell, fanatisch und brutal, engstirnig und ressentimentgeladen, aber auch ‚feinsinnig‘ und ‚innerlich‘“. Glaser spricht von „geistiger Wirrnis“ und „weltanschaulichem Gruselkabinett“, von der Pervertierung der deutschen Kultur. Es blieben „Wortkadaver“ übrig. Zerstört worden sei der „Logos (das Wort, die sinnvolle Rede und die Vernunft überhaupt)“, ersetzt durch einen wirren Mythos. Der Publizist beobachtet einen „Vorgang der Verdrängung von Geist, Vernunft und Wahrheit“, der „schuf seelische Haltungen, die einer psychopathologischen Deutung bedürfen“. Die Bevölkerung habe den Weg in das geistige Verhängnis freudig beschritten – eine Herde von Schafen, die einem Esel folgte.
Der fulminante, mitunter polemische Verriss der deutschen Kultur in ihren verqueren Anmaßungen erschließt sich vor allem selbst lesend. Zeitlos und speziell auf unsere Zeit angewandt hat die Diagnose der „Genialität der Mittelmäßigen“ mit einer Abkehr von der Aufklärung einen augenöffnenden Wert. Das gilt für das Politische zunächst als Relativierung der vermeintlich hochstehenden deutschen Kultur und damit für jede Form von Nationalismus, der rückblickend scheinheilig und hohlwangig wirkt, wenn nicht hohlköpfig. Offen ist, ob die Vermittlung der deutschen Klassik in der Schule gelingt. Ferner ist Glaser für das Phänomen der politischen Vermassung interessant, das auf Unmündigkeit gründet, sobald der Verstand nicht mehr ohne Leitung eines anderen bemüht wird. Allerdings gilt auch: Wer die Spießer kritisiert, der sollte die Verantwortung für politische Verwerfungen gerade auch bei den mehr oder minder stilvollen Eliten suchen.
In einer Zeit, in der Kinder zu politischen Idolen erhoben werden, in der neue, alte Ideologien wie Wokismus, Anti-Rassismus, Anti-Kapitalismus, Genderismus und Klimahysterie gepflegt werden, ist es hilfreich sich mit Herman Glaser das Wesen der Aufklärung vor Augen zu führen: Die Menschen emanzipieren sich von ihren Gefühlen. Geist und Gefühl binden sich gegenseitig. Im öffentlichen Bereich ist sogar das Ausschalten der Emotionen das Ziel, indes das Gegenteil der Fall. Wähler entscheiden emotional (Mythos des rationalen Wählers). Damals wie heute gilt: „Romantik vermischte sich mit Intoleranz gegen Andersdenkende.“ (S. 96)
Begriffe wie Kitsch, Geraune, Halbsinner, Gefühlsduselei, oberflächlich, simpel, anmaßend, Stammler weisen auf andere als gewohnte Maßstäbe hin, mit denen Politik, Bürger, Politiker, Beobachter abgeprüft werden dürfen. Differenzierte Nüchternheit beim Betrachten von Politik ist ein Gebot, Maß halten ein anderes, Komplexität aushalten ein drittes.
Erwähnen möchte ich die von Hermann Glaser kritisierten Karrieremuster: unpolitische Untertanen, pflichtbewusst, solide in der Umsetzung, devot nach oben, stets um Karriere besorgt, Macht anbetend, Schinder bei gefahrloser und opportuner Gelegenheit. (S. 296) Die Banalität des Bösen ist dort damit gemeint.
- Politischer Kitsch als zunehmend autoritärer Alltag
„Sentimentale Worthülsen, penetrante Gefühligkeit, süßliche Bilder und betroffenheitsschwangere Gesten bestimmen den öffentlichen Diskurs.“ schreibt der deutsche Publizist Alexander Grau (*1968) einleitend in seinem prägnanten Essay „Politischer Kitsch“. Der habe Hochkonjunktur und sei eine deutsche Spezialität. Erneut und überschätzt, so ließe sich kommentieren. Grau weist selbst auf die lange Tradition des politischen Kitsches hin, ohne Herman Glaser zu erwähnen. Politkitsch gab es in groteskem Ausmaß beispielsweise im faschistischen Italien, weithin sichtbar in den sozialistischen Staaten sowie aktuell in autoritären Regimen weltweit. Gleichwohl ist der Essay ein politischer Augenöffner. Auch hier sind die Bürger die Bedarfsträger – Spießbürger und Politkitsch gehören zusammen. Erneut soll das Gefühl die Realität ersetzen. Einmal mehr wird die offene Gesellschaft eingeengt auf ein beschränktes Maß als legitim erachteter Meinungen.
Alexander Grau schreibt von „gesammelter Phraseologie moralischer Einfalt“, von „Plattitüden guter Gesinnung“, von „Fachleuten der Unterhaltungsbrache“ für Emotionalisierung, am besten gleich durch Kinder. (S. 12) Politischer Kitsch sei das Ergebnis einer inneren politischen Haltung, eines politischen Bewusstseins, das selber kitschig sei. Gebaut auf Sentimentalität, zur Schau getragener Empfindsamkeit, der Sehnsucht nach einer überschaubaren, geborgenen, bipolaren Welt von Gut und Böse. Gefühligkeit statt klarer Reflexion. Moral solle massentauglich gemacht werden. Aufgefordert werde zu symbolischen Handlungen. Flucht vor der Wirklichkeit. Heilsgewissheit. Beides gehört dazu. Wer denkt da nicht an Klimaapokalypse und Klimarettung?
„Kitsch ist Lüge.“ „Kitsch ist Weltflucht“. „Kitsch will betrügen.“ (S. 19) Das ist offenkundig gefährlich für die Demokratie und für eine offene, pluralistische Gesellschaft.
Alexander Grau geht auf Spurensuche. Kitsch sei eine Erfindung des Bürgertums. Das Übertriebene, Idealisierte werde für wahrhaftig gehalten, das Subjektive und Gefühlige verklärt, als Kompensation des Fortschritts. Bürgertum, Fortschritt, Religiosität, gleichsam Wendezeit, nur vom 18. zum 19. Jahrhundert und während der institutionellen und industriellen Revolution, dort liegen Ursprünge des bürgerlichen Kitsches für den promovierten Journalisten. Kitsch sei nicht nur „die Schwundstufe bürgerlichen Denkens, sondern zugleich seine Verdichtung.“ (S. 52) Kitsch sei ein Mittel der politischen Kommunikation. Allerdings droht Kitsch als Kategorie und Konzept omnipräsent zu sein.
Dem bürgerlichen Kitsch des 19. Jahrhunderts mit seiner historischen Bindung folgte der totalitäre Kitsch, so Grau, mit visionär-revolutionärer Ausrichtung. Für den totalitären Kitsch sei die Pose, die Phrase alles. Es komme auf die richtigen Bilder an. „Kitsch ist der Schleier, der die Wirklichkeit verstellt und den Menschen so ihre Autonomie und geistige Unabhängigkeit nehmen will, indem er sie einlullt in eine Symbolwelt“, die aus sentimentalen Klischees und bekannten Pathosfloskeln bestehen würde, die Vertrauen und Geborgenheit erzeugen sollten. (S. 88) In der Postmoderne von heute würde die Realitätsverweigerung zum ideologischen Signum. Selbst so grundlegende Fakten wie die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen werde in Zweifel gezogen. Moralische Wünsche sollten empirische Beschreibungen ersetzen. Die Welt als Summe individueller Empfindungen. Infantilität statt Vernunftgebrauch. Die Aufklärung kippe in Dummheit. (S. 97) Absoluter Kitsch der Spätmoderne als Ausdruck von Befindlichkeiten, Sehnsüchten, Träumereien – vom Propagandamittel zum Denkmuster. Das „Denken an sich ist kitschig geworden.“ (S. 101f.) Ein autoritäres Wesen, aggressiv und repressiv – mit Gesinnung statt Abwägung – macht sich breit. Der Essay wurde noch vor der Corona-Pandemie und der Corona-Politik veröffentlicht.
Fazit und Ausblick
Politik arbeitet mit Symbolen. Symbolpolitik ist eine bewährte Praxis in der Kommunikation zwischen den politischen Bürgern, zwischen Politikern und Bürgern. Symbolpolitik ist hochgradig problematisch und nicht alternativlos, aber die Alternativen sind anspruchsvoll.
Spießer-Ideologie ist zeitlos, durch eine Kombination aus simpler Eindeutigkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit gefährlich. Gefühl verdrängt Verstand. Emotionen lassen sich mit Symbolpolitik bedienen. Das wäre indes verantwortungslos, zugleich machtpolitisch verlockend. Wie gelangen wir in einem System von Mehrheitsentscheidungen zu mehr als Mittelmaß?
Politischer Kitsch ist autoritär. Gefühlsduselei verdrängt die Wirklichkeit, individuelles Empfinden soll die Realität ersetzen. Aufklärung weicht dem Moralismus – im Namen des Guten. Der Weg zur Hölle wurde stets mit guten Absichten gepflastert. Anmaßung statt Anstand und Denken. Ist das zu viel verlangt?
Das Konzept der Politischen Religion kann alle drei Perspektiven verbinden. Dort verschwimmen die Grenzen zwischen Politik, Wissenschaft, (säkularer) Religion, während der Einzelne in der Masse aufgeht. Die Förderung von Individualität und Eigensinn, Entpolitisierung und Privatisierung sowie Toleranz und kritisches Denken sind Gegenmittel gegen politische Einfalt, die zum Autoritären tendiert.
Die Spießer-Ideologie und das Horden-Denken sind mit einer großen Gesellschaft unvereinbar. Eine bessere Politik ist möglich. Sie fängt bei uns selbst an. Widerspruch statt Schweigespirale, nach gründlichem Nachdenken statt emotionalem intuitivem Zustimmen und Verdammen, gehört dazu. Ich habe in „Attack Titans. Mut zur Freiheit“ und im Schlusskapitel meines Liberalen Manifests Ansatzpunkte für eine besser Politik aufgeführt. An dieser Stelle möchte ich auf drei hinweisen:
- Konsequentes Denken als Lebensaufgabe. Nicht nur die beabsichtigten und unmittelbaren, sondern insbesondere die kontra-intuitiven, langfristigen Wirkungen bedenken.
- Subsidiär und besser non-zentrale Lösungen haben Vorrang. Bürgerliche Lösungen vor Ort, vielfältig statt einheitlich.
- Echter politischer Wettbewerb mit unterschiedlichen Systemen, grundsätzlich aufgelockert durch Losverfahren für Menschen, die politische Verantwortung übernehmen wollen, und zeitlich strikt begrenzte Ämter sind ein Anfang.
Literatur:
Murray Edelman: The Symbolic Uses of Politics, Erstauflage 1964, University of Illinois Press, Urbana and Chicago 1964, Neuauflage 1985, 221 S., 25,00 Euro.
Hermann Glaser: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Verlag Rombach, Freiburg 1964, 280 S. plus Bilder, antiquarisch erhältlich.
Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität, 2, Aufl. CLaudius Verlag, München 2021, 127 S., 15,00 Euro.