Jörg Baberowski argumentierte gestern Abend im Literaturhaus in der Fasenstraße konsequent liberal und beeindruckend realistisch. Anlass war die Buchpremiere von „Räume der Gewalt„, seinem gerade erschienen Buch.
Der Professor für Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt Universität ist indes kein ausgewiesener Liberaler. Allerdings waren seine Sichtweise auf Macht und Ordnung bemerkens- und bedenkenswert: Gewalt diene als Mittel zur Herstellung von Macht. Gewalt sei produktiv, es entstehe eine neue Ordnung. Gewalt ist immer da, sie ist notwendig, um Freiheit und Ordnung zu sichern. Das macht einen starken Staat erforderlich. Gleichwohl bleibe Macht stets dialektisch. Denn der Staat müsse kontrolliert, durch Checks und Balances eingehegt werden, da er jederzeit in Despotie umschlagen könne. Das lasse sich indes nicht ändern. Es gebe zwar staatslose Gesellschaften, etwa die Bergvölker im Kaukasus. Diese seien aber sehr kleinräumig auf Dörfer und Sippen begrenzt. Eine derartige Lebensweise berge zudem Nachteile, wenn auch nicht aus Sicht der Bewohner: Es prägten sich extrem enge Sozialstrukturen aus. Die Augen des Dorfes seien überall. Handeln sei sozial determiniert. Aversion vor Fremden herrsche vor, weil man von Fremden nicht wisse, wie sie sich verhalten. Außerdem gelte das Prinzip der Blutrache.
Interessanterweise sei der Gewaltpegel in den Räumen besonders hoch, wo die Staatlichkeit besonders gering sei – und Gewalt zur Herstellung von Ordnung benutzt werde. Baberowski, durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Kenner Russlands und der Sowjetunion, deren Stalinismus er in einem Tabubruch zusammen mit Anselm Doering-Manteuffel schlüssig mit dem NS-System verglich („Ordnung durch Terror“) urteilte: Die Nazis seien braune Anarchisten gewesen. Die Reichskristallnacht sei eines von vielen Beispielen für eine bewusst geschaffene Anarchie verbunden mit der Aufforderung, Gewalt anzuwenden.
Den Schlüssel zum Verständnis von Gewalt sieht Baberowski im Handeln in einer Situation. Ideologie sei hingegen nicht wesentlich und biete für Gewalttaten keine Erklärung. Das gelte für jede Ideologie, die lediglich im Gepäck der Täter mit dabei sei. Soziale Situationen strukturierten sich nicht nach Kausalitäten. Es seien eben die konkreten Situationen, in denen gehandelt werde: Nicht alle Menschen hätten Kinder und Frau erschossen – überzeugte Nazis hätten eine Rückzieher gemacht, Nicht-Nazis hätten gemordet. Es gebe eine Phänomenologie von Progromen, die gleich abliefen, ob in Indonesien und Hoyerswerda.
Den Kollegen gab er auf Nachfrage einen Rat: Historiker sollten Soziologen der Vergangenheit sein, wenn sie gut sein wollen. Alles andere, so ließe sich mit Mises als Zuhörer kommentieren, wäre Geschichtsphilosophie.