Demokratiekrise – historisch und aktuell
Einsichten aus zwei Revolutionen von einem Beobachter und Visionär, Pierre-Joseph Proudhon, im 19. Jahrhundert und für das 21.
Proudhon, für ihn ist im deutschsprachigen Raum Stefan Blankertz der Fachmann und gleichsam sein später Verleger. Mit dem Thema „Dialektik der Demokratie“ setzt der Berliner Wortmetz die Herausgabe von Texten des französischen Denkers, kritischen zeitgenössischen Kommentators, politischen Theoretikers fort, der demokratischer Republikaner, liberaler Sozialist und erster Anarchist war.
Als ideengeschichtliches Kleinod, allgemeinbildend und aktuell hatte ich den vorangegangenen Band „Für dezentrale Nationen“ bezeichnet. Proudhons kundige Auseinandersetzung mit der Demokratie lohnt sich ebenfalls, auch komplementär zu Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“. Das gilt nicht zuletzt angesichts der Krisen der Demokratie im 21. Jahrhundert.
Auf den Leser warten fünf Texte von 1848 und 1863, erneut in ansprechendem Layout, kundig eingeordnet und erläutert. Handreichungen für eilige und unerschrockene Leser gehören dazu. Zugleich ist es nicht einfach, braucht es etwas Zeit, sich auf die Texte und ihre Zeit einzulassen.
Im Zeitalter der französischen Revolutionen bezieht Proudhon Position. Die Gefahren von Zentralisierung und Nationalismus, von Freiheit beschränkendem und bevormundendem Mehrheitswillen, aber auch die Stellvertreterproblematik werden über 1863 hinaus deutlich. Einen Wahlboykott statt die Wahl eines (kleineren) Übels, eine Empfehlung Proudhons, fürchten auch heute Staatsführungen. Proudhon setzt dem Etatismus sein republikanisches Ideal entgegen: Dezentralisation, lokale und regionale Selbstverwaltung, freiwillige Föderation statt Zentralismus.
Die Mehrheit des Volkes wählte indes Herrschaft und Zentralismus, einen Diktator und Kaiser. Proudhon hatte vielfach gewarnt: „Die Demokratie ist nichts anderes als die Tyrannei der Mehrheiten, die abscheulichste aller Tyranneien, denn sie stützt sich weder auf die Autorität einer Religion noch auf einen Geburtsadel noch auf die Vorrechte des Talents oder des Vermögens, sondern hat die Zahl zur Grundlage und trägt den Namen des Volkes als Maske.“
Das allgemeine Wahlrecht
Zeitlos ist Proudhons Erläuterung des allgemeinen Wahlrechts, was es bewirken kann und was nicht. Die Mehrheitsmeinung gegen den Willen der Minderheit durchsetzen ist für den Demokraten ein Widerspruch in sich. Vielmehr bringe das allgemeine Wahlrecht den größten allgemeinen Nenner aller Auffassungen, gerade auch widersprüchlicher, zum Ausdruck. Eine Mehrheit könne niemals die Freiheit aufheben oder kippt, so ließe sich resümieren in Diktatur um. Für den Leser drängt sich die Diskrepanz zwischen politischer Theorie und Praxis auf. Was nicht sein darf, wurde dennoch Realität. Der politische Theoretiker war indes Praktiker genug, um die Folgen vorherzusehen. Dabei geht Proudhon an die Wurzel des Problems: „Das allgemeine Wahlrecht, sage ich, setzt für seine freie und vollständige Ausübung ein Land voraus, das durch seine natürlichen Gruppen strukturiert ist: Provinzen oder Regionen, Kommunen, Kantone, Gemeinden und Körperschaften usw.“ Das erinnert an die Antike und die griechischen Lektionen von Kleisthenes & Co..
Konstruktiv radikal
Mir begegnet Proudhon in seinen Texten als politischer Theoretiker und Kommentator des Zeitgeschehens. Proudhon denkt grundsätzlich und analytisch klar. Als konsequenter Republikaner und Demokrat ist er ein ernstzunehmender Kritiker, noch heute. Zeitlos gilt das für die Stellvertreterproblematik, die die moderne Demokratie kennzeichnet und aristokratisch anmutet. Hinzu kommen seine zeitlose Erkenntnisse über die Bürokratie und das ewige Machtproblem der Sonderinteressen: „Es ist bewiesen, empirisch, dass jede durch den Staat ausgeführte Dienstleistung im Allgemeinen 50 % mehr kostet, als sie wert ist, z. B. Straßenbau, Steuererhebung, Schutzzoll usw.“ Seine Trendanalyse war treffen. Der marode Zustand Frankreichs führte 1870/71 zum Kollaps und brachte ein anarchistisches Bürgerexperiment hervor, das niedergeschlagen wurde.
Zum Nachdenken
Die Texte entfalten ihr Potenzial für Selbstleser und Mitdenker. Als Anregung folgen einige Einblicke, zunächst zu Demokratie und Wohlfahrtsstaat: „Die Demokratie dagegen neigt zum Kommunismus, nur per Kommunismus kann sie sich Gleichheit vorstellen. Was sie braucht, sind Obergrenzen, Zwangsanleihen, progressive und verschwenderische Steuern, begleitet von sozialstaatlichen Einrichtungen, Hospizen, Asylen, Kinderkrippen, von Staatsunternehmen, Rentenkassen, Spar- und Hilfsfonds, der ganzen Ausrüstung der Armutsverwaltung und der Uniformierung des Elends. … Sie freut sich über die Erbschaftssteuer, die die Familie zerschlägt und das Eigentum in die Hände des Staats legt.“
Proudhon wirft Nachdenkfragen auf – zur allgemeinen Wahl:
„Wer hat das Recht, anderen zu sagen: ‹Durch mich spricht das Volk›?“ Hintergrund: „Wenn das Volk gesprochen hat, warum habe ich nichts gehört? … Wo und wann habt ihr das Volk gehört? Durch welchen Mund, in welcher Sprache spricht es? Wie vollzieht sich diese erstaunliche Offenbarung?“ Und weiterführend: „Wie sollen die gegensätzlichen Wünsche, die entgegengesetzten Tendenzen in einem gemeinsamen Ergebnis, in dem einen und universellen Gesetz, zusammenfließen?“
Die grundsätzliche Herausforderung benennt er wie folgt: Es „wird angenommen, dass man das Volk erstens befragen, zweitens, dass es antworten, drittens, dass sein Wille ‹authentisch› festgestellt werden könne, schließlich, dass die Regierung, die auf dem geäußerten Willen des Volks beruht, die einzig legitime sei.“ Und radikal: „Mit der Wahlurne eliminiert sie die Menschen; mit der Abstimmung über Gesetze eliminiert sie die Ideen.“
Des Pudels Kern
Proudhons zentrale These lautet: Demokratie ist eine verkleidete Aristokratie. Das Volk ist der Souverän, regiert aber nicht. Und die Wahl als Stimmabgabe wird zur leeren Zeremonie: „Wenn das Prärogativ der Bürger nur darin bestünde, alle drei, fünf oder sechs Jahre zwischen Eigennamen zu wählen, Namen, Vornamen und Parteizugehörigkeit eines Kandidaten mehr oder weniger korrekt auf ein quadratisches Stück Papier zu schreiben und diesen Wahlzettel dann schweigend in eine Urne zu werfen, die von einigen behördlichen Helfern bewacht wird, dann wäre das allgemeine Wahlrecht, so müsste man eingestehen, nichts als eine leere Zeremonie und käme einer regelmäßig erneuerten Abdankung des souveränen Volks gleich.“ Dabei erkennt Proudhon ein zeitloses Muster, das die Entwicklung vieler vermeintlicher Herrschaften des Volkes kennzeichnen kann: „die Schwätzer ersticken seine Stimme und anstelle des Volks etabliert sich die Tyrannei seiner Höflinge.“ Anschließend wird „das Volk zum Material für Experimente; kleine Männer, kleine Ideen, kleine Reden; Mittelmäßigkeit …“. Als Gegenmittel empfiehlt Proudhon in einer solchen Krise die Wahlenthaltung: „Je mehr Nichtwähler es gibt, desto mehr Macht wird ihr Denken gewinnen.“
Die Alternative
Ein radikaler Republikaner setzt den Fehlentwicklungen einen konstruktiven Anarchismus entgegen: „Die Republik ist die Organisation, in der alle Meinungen und Tätigkeiten frei bleiben und das Volk, auch wenn es unterschiedliche Meinungen und Willen hat, wie ein einziger Mensch denkt und handelt. … regiert. Die Republik ist eine Anarchie im positiven Sinne.“ Mit den einleitenden Worten von Stefan Blankertz sah Proudhon die politische Freiheit in Dezentralisation und (freiwilliger) Föderation, die soziale Freiheit in Selbstorganisation und die wirtschaftliche Freiheit in einer auf Gegenseitigkeit gegründeten Eigentumsordnung (Mutualismus). Freiwilligkeit bildet für ihn das leitende, oberste Prinzip.
Pierre-Joseph Proudhon: Dialektik der Demokratie. Texte 1848 bis 1863, herausgegeben von Stefan Blankertz, Edition G. 132, BoD Norderstedt 2025, 284, Taschenbuch 17,80 Euro, Kindle 8,99.