Die Zukunft der Ökonomik
Die Ökonomenzunft steckt nach wie vor in einer schwierigen Lage. Einerseits ist sie immer weiter fortgeschritten, andererseits wurde exemplarisch in der Finanz- und Staatsschuldenkrise deutlich, dass der neoklassisch-neokeynesianische Mainstream (wahlweise auch mit dem Suffix post versehen) in der Realität nicht überzeugt. Auch heterodoxe Schulen bieten keine hinreichenden Antworten auf konkrete poitikökonomische Fragestellungen. Das gilt selbst für die von mir geschätzte Österreichische Schule. Ein Grund ist das Verharren in einer Form, die als politisch-ökonomische Theorie bezeichnet werden kann – in sich konsistente, aber regelmäßig zu abstrakte Annahmen und Erklärungen. Ökonomik ist dann spitze (und alltäglich brauchbar), wenn sie Prognosen liefert, die überprüft werden können, in konkreten wirtschaftspolitischen Lagen. Qualitative und quantitative Ansätze müssen in einander greifen. Eine Fundierung in und durch Daten ist unerlässlich. Erforderlich sind dafür alltagstaugliche Modelle, die auf konkrete Fragestellungen klare Aussagen zutage fördern.
Nun gibt es seit Jahrzehnten eine Entwicklung, die eher aus den Bereichen der Sicherheitspolitik, der Ökologie und praktisch insbesondere aus der Praxis der Physik entspringt, aber bereits zahlreiche ökonomische Anwendungen gefunden hat. Die Rede ist von Systemischer Analytik, Systemanalyse, Systemtheorie plus, Komplexitätswissenschaften und eben Komplexitätsökonomik. Hier zeigt sich, dass das Argument, Sozial- und Naturwissenschaften seien unvereinbar, nicht zutrifft.
Doyne Farmer (*1952), von Hause aus Physiker und seit rund drei Jahrzehnten praktizierender Ökonom, hat seine angewandten Arbeitslebenserinnerungen zur Komplexitätsökonomik mit „Making Sense of Chaos“ vorgelegt. Das typische amerikanische Buch, aufgrund der vielen Fallbeispiele und persönlichen Schilderungen, bietet 5 Teile, die sich mit komplexen Systemen und Komplexitätsökonomik inklusive Simulationen befassen (Teil 1), mit Unterschieden zur Standardökonomie (Teil 2), dem Finanzsystem und der Klimaökonomie (Teile 3 und 4) sowie einen Ausblick auf Modellierungsaufgaben und -herausforderungen (Teil 5) enthält.
Das Buch bietet viele hilfreiche Ansätze, wenn auch nur bedingte Tiefeneinblicke für Fachleute. Netzwerkanalysen, Agenten basierte Modelle, Simulationen, die Bedeutung geeigneter Daten und manches mehr werden immer wieder thematisiert. Indes gibt es ein Manko, das eine Weiterentwicklung überwinden muss: In der von J. Doyne Farmer vertretenen Form ist Komplexitätsökonomik auf die Makroebene beschränkt. Das ist okay für die erfolgreiche Analyse und Prognose der Auswirkungen verschiedener Corona-Politiken auf die Wirtschaft. Und hier hatten die Simulationen positive praktische politische Auswirkungen. Der britische Coronapolitik wurde revidiert. Aber in vielen Fallstudien, die im Zentrum angewandter Ökonomik stehen müssen, wird die Anbindung an die Mikroebene zum Erfolgsschlüssel, zumindest für einen Teil der Modelle, die dann zu einem Gesamtbild einer Fallstudie beitragen. Gleichwohl zeigt sich bereits in dieser Entwicklungsstufe von Komplexitätsökonomik, dass hier die vielleicht vielversprechendste Weiterentwicklung von Ökonomik vorangeschritten ist, zu der viele unterschiedliche ökonomische Schulen einen hilfreichen Beitrag leisten.
Doyne Farmer: Making Sense of Chaos. A Better Economics for a Better World, Allen Lane, Dublin 2024, 362 S., Hardcover 23,82 Euro.