Inspiration für kluge Köpfe: Anthony de Jasay
Anthony de Jasay (1925-2019) verkörperte wie kaum ein anderer Denker des 20. Jahrhunderts die Verbindung von scharfsinniger ökonomischer Analyse und philosophischer Tiefe in der Tradition klassisch-liberalen Denkens.

Geboren als Jászay András in Ungarn, erlebte er in seiner Jugend sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Herrschaft. 1948 floh er aus dem kommunistischen Ungarn nach Westösterreich und gelangte später über Australien nach Oxford. Diese biografische Erfahrung mit totalitären Systemen prägte sein späteres Denken über die Gefahren staatlicher Macht nachhaltig.
Nach einer erfolgreichen Karriere als Investmentbanker in Paris widmete er sich ab 1979 ausschließlich dem Schreiben und der politischen Philosophie. Dies ermöglichte ihm eine bemerkenswerte intellektuelle Unabhängigkeit, die sich in seinem Werk deutlich niederschlägt.
Sein 1985 erschienenes Hauptwerk „The State“ gilt als fundamentale Kritik staatlicher Macht und ihrer inneren Logik. Anders als viele liberale Denker vor ihm fragte de Jasay nicht, wie der Staat begrenzt werden könne, sondern analysierte, warum Staaten systematisch dazu neigen, zu wachsen und ihre Macht auszudehnen. Er zeigte, dass der „begrenzte Staat“ eine inhärent instabile Konstruktion ist, da jede staatliche Institution dazu tendiert, ihre Befugnisse stetig auszuweiten.
De Jasays Analyse zeichnete sich durch mehrere Besonderheiten aus:
- Methodologische Strenge: Er bestand darauf, dass politische Theorie mit den grundlegenden Prinzipien der Ökonomie vereinbar sein müsse.
- Spieltheoretische Perspektive: Er nutzte konsequent spieltheoretische Überlegungen, um soziale Interaktionen und institutionelle Entwicklungen zu analysieren.
- Skeptizismus gegenüber Sozialkontrakttheorien: De Jasay kritisierte die in der liberalen Tradition beliebten Gesellschaftsvertragstheorien als logisch inkonsistent.
- Präzise Sprache: Seine Werke zeichnen sich durch eine außergewöhnliche sprachliche Präzision aus, die komplexe Zusammenhänge klar herausarbeitet.
In späteren Werken wie „Choice, Contract, Consent“ (1991) und „Before Resorting to Politics“ (1996) entwickelte er seine Analyse weiter und zeigte, wie soziale Ordnung ohne staatliche Intervention entstehen kann. Seine Arbeiten zur Rolle von Konventionen und freiwilligen Vereinbarungen erweiterten das Verständnis spontaner Ordnungen erheblich.
Besonders wichtig war sein Konzept der „ordered anarchy“ – einer geordneten Anarchie, die sich von der klassischen Anarchie unterscheidet. Er argumentierte, dass stabile soziale Regeln und Institutionen ohne staatliche Durchsetzung möglich sind, wenn sie auf gegenseitigem Interesse und evolutionär entwickelten Konventionen basieren.
De Jasay war auch ein scharfer Kritiker der modernen Demokratietheorie. Er argumentierte, dass demokratische Entscheidungsprozesse oft zu kollektiven Irrationalitäten führen und die individuellen Freiheitsrechte systematisch gefährden. Seine Analyse von Mehrheitsentscheidungen und deren inhärenten Problemen gehört zu den scharfsinnigsten Kritiken demokratischer Systeme.
Sein letztes großes Werk „Social Justice and the Indian Rope Trick“ (2014) setzte sich kritisch mit Theorien sozialer Gerechtigkeit auseinander. Er zeigte, wie diese Konzepte oft als Rechtfertigung für staatliche Eingriffe missbraucht werden und dabei fundamentale logische Fehler aufweisen.
De Jasays Werk ist gekennzeichnet durch eine kompromisslose intellektuelle Redlichkeit. Er scheute sich nicht, auch unbequeme Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn seine Analyse ihn dorthin führte. Seine Schriften sind keine leichte Lektüre, aber sie belohnen den aufmerksamen Leser mit tiefen Einsichten in die Funktionsweise sozialer Ordnungen und die Grenzen politischer Gestaltungsmöglichkeiten.
Seine Bedeutung für den klassischen Liberalismus liegt vor allem darin, dass er zentrale Annahmen der liberalen Tradition kritisch hinterfragte und dabei half, liberales Denken auf ein solideres theoretisches Fundament zu stellen. Sein Werk zeigt, dass konsequentes liberales Denken oft radikaler sein muss, als viele seiner Vertreter wahrhaben wollen.
De Jasay starb 2019 in Frankreich. Sein intellektuelles Erbe ist für jeden unverzichtbar, der sich ernsthaft mit den Grundfragen politischer Ordnung und den Bedingungen menschlicher Freiheit auseinandersetzen will.