Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?
Die Überschrift scheint eine Fangfrage zu sein. Offensichtlich ist die deutsche Wirtschaftspolitik seit Jahren, eher Jahrzehnten nicht richtig. Sie ist falsch. Sie ist der herausragende Krisentreiber,[i] wenn man Wirtschaftspolitik im weiteren Sinne versteht als alle politischen Maßnahmen, die sich auf ökonomische Bereiche auswirken, darunter auch die Geldpolitik, die nur tw. deutsch ist.
Viele Bürger und die benachteiligten Unternehmer dürften rasch eine Vielzahl von Hinweisen zur Hand haben, darunter: Bürokratie, Steuern, Energiekosten, Genehmigungsverfahren, Fachkräftemangel sowie eine unternehmens- und marktwirtschaftsfeindliche Haltung. Hinzu kommen alltäglich spürbare Symptome der praktizierten Wirtschaftspolitik, die nicht immer eins zu eins und nicht ausschließlich auf Politik zurückzuführen sein dürften:
- Jahrelange Geldentwertung und aktuelles Preisniveau sowie die besondere Vermögenspreisinflation.
- Zustand der Infrastruktur und deren Auswirkungen auf den Alltag und den deutschen Standort bis hin zur Beeinträchtigung der Verteidigungsfähigkeit Europas.
- Immobilienknappheit und Mietenentwicklung inkl. staatlicher Preisfestsetzungen (Mietendeckel) sowie überbordende Bauvorschriften und Genehmigungsverfahren.
- Wieder steigende und verdeckte Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel sowohl für gering als auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer.
- Jahrelanges Stagnieren und Schrumpfen von Teilen respektive der gesamten Wirtschaft und der Vergleich zu anderen Volkswirtschaften.
- Wohlstandsverluste durch verschlechterte Angebote in nahezu allen Lebensbereichen – vom Handwerkermangel über den Ärztemangel und fehlende Medikamente bis zu schlechter und ideologisierter Bildung, Kurzlebigkeit von Produkten, Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel etc. pp. mit antisozialen Folgen insbesondere für die arbeitende untere Mittelschicht.
In der Unternehmensberatung habe ich vor gut zwei Jahrzehnten die Unterschiede zwischen Wachstums-, Sanierungs- und Restrukturierungsprojekten kennengelernt. In Deutschland und Europa reicht es m.E. nicht mehr für eine Sanierung. Das bedeutet, eine Reform im Ausmaß der Agenda 2010 für ein Problemfeld löst die aufgestauten Probleme künftig nicht mehr. Vielmehr geht es um Strukturreformen, die weitreichender sein müssen, um eine Trendumkehr zu bewirken. Einheiten, Prozesse, Tätigkeitsfelder müssten verändert werden. Dazu würden oder werden wesentliche institutionelle politische Reformen gehören, zuvorderst eine Halbierung der Bürokratie hinsichtlich Ausmaß und Reichweite (Scale und Scope) und damit eine neue Aufteilung der Zuständigkeit zwischen Staat und Bürokratie einerseits sowie Bürgern und Privatwirtschaft andererseits.
In dieser Grundsätzlichkeit wurde bereits vor fast 75 Jahren schon einmal die Frage gestellt: Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?[ii] Damals war die Ausgangslage nach sechs Jahren Weltkrieg und vier Jahren Nachkriegsbesatzungszeit schlechter, die Perspektiven erscheinen rückblickend indes besser als heute. Es folgte eine einzigartige Boomphase, die über 20 Jahre bis Anfang der 1970er Jahre reichen sollte. Heute ist die Welt komplizierter geworden und maßgebliche Entscheidungen werden im fernen Brüssel sowie im für viele Menschen abgehoben erscheinenden Berlin, auch in Verhandlungen mit den Bundesländern getroffen. Zudem fehlen heute vergleichbar kluge, einflussreiche Männer wie Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack, Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises u.v.a.m. Zugleich sollte rückblickend deren Einfluss nicht überschätzt werden.
Vor 75 Jahren
1950 beauftragte die Bundesregierung den international angesehenen, in Genf lebenden Ökonomen Wilhelm Röpke mit einer Begutachtung der deutschen Wirtschaftspolitik seit der Währungsreform. Anlass waren erhebliche öffentliche Diskussionen, zudem eine vehemente Kritik vor allem von interventionistischer, kollektivistischer Seite. Die Bundesregierung veröffentlichte das allgemeinverständliche, bildende Gutachten: Die „umfassende Analyse und Kritik erhellt die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik mit solcher Klarheit und Schärfe, daß es die Bundesregierung als ihre Pflicht erachtet, diese Darstellung einer breiten deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen.“ schrieb Konrad Adenauer im Vorwort.
Wilhelm Röpke hatte das Gutachten in Form von 91 Erkenntnisabschnitten in insgesamt 12 Kapiteln vorgelegt. Dazu gehören die „Grundstruktur der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft“, die Entwicklung vom Kollektivismus mit aufgestauter Inflation zur freien Marktwirtschaft, ferner „Wesen und Grenzen der Marktwirtschaft“, „Hemmungen, Stockungen und Übergangsprobleme“, das damals ausgeprägte Kapitalproblem, ferner die Betrachtung verschiedener Wirtschaftszweige inkl. Außenhandel und schließlich die „unerbittliche Alternative“.
Noch heute beachtenswerte ordnungspolitische Kritik
Das Ausmaß der Ähnlichkeiten ordnungspolitischer Probleme springt ins Auge, schon bei der Lektüre der ersten Sätze über den russischen Großraum sowie anschließend über die gemischten Wirtschaftssysteme des Westens, deren Kennzeichen „Unklarheit, Verschwommenheit der Richtlinien, Grundsatzlosigkeit“ seien, und ein „zersetzender Einfluß politischer und sozialer Machtgruppen und zunehmende Auflösung“ der kapitalistischen Welt. Bei allen Unterschieden, auch im Detail, zu heute: Im Grunde schient die Lage 1950 in Deutschland weiter vorangeschritten gewesen zu sein als sie es 2024 ist, und zwar weiter konstruktiv reformerisch, während das Destruktive, anders als heute, bereits weitgehend abgeschlossen in der Vergangenheit lag. Seitenbemerkung: Wenn man dieser Einschätzung folgt, dürften nicht die nächsten, sondern die übernächsten Bundestagswahlen interessant werden.
Weitgehend übernehmen ließe sich Röpkes einführende Kritik am 1950 herrschenden (britischen) Mischwirtschaftssystem (S. 8f., Zitate S. 9), mit Blick auf Deutschland,
- einem „Mangel an Ordnung und Antrieb auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens (Arbeitsleistung, Unternehmerleistung, Investitionen, Sparen)“, heute die Unternehmerleistung insbesondere der Familienunternehmen ausgenommen,
- „Funktionsstörungen des von einander widerstrebenden Ordnungsprinzipien (den Kräften des freien Marktes einerseits und des staatlichen Kommandoapparats andererseits) hin und her gerissenen Wirtschaftsapparates“,
- „Politisch irritierende Undurchsichtigkeit des Wirtschaftsprozesses, überwuchernde Gruppenherrschaft und die Gefahr, ein undurchdringliches Gestrüpp von Vorschriften zu schaffen, die ebenso viele Privilegien wie Gelegenheiten zur legalen oder illegalen Bereicherung bedeuten“. Hier ist Deutschland 2024 tw. weiter fortgeschritten.
Damals wie heute braucht es eine „konsequente und in sich widerspruchsfreie Politik“ für die Marktwirtschaft ohne Konzessionen an Gruppen (S. 11), die es in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik indes bereits gab.[iii] Deren fundamentale Bedeutung für das Staats- und Gesellschaftsleben, für den Rechts- und Verfassungsstaat, für Demokratie mit freier öffentlicher Meinung erkannte und betonte der Wahlschweizer Röpke. Dazu gehört auch, dass nur die Marktwirtschaft und nicht die Miss-Mischwirtschaft für „Ergiebigkeit, Stabilität und Gerechtigkeit“ (S. 12) sorgt und gerade die Marktwirtschaft Freiheit und Gerechtigkeit gewährleistet.
Entfernte Ähnlichkeiten
Zu den Besonderheiten der Nachkriegszeit gehörte das zer- und abgeschnittene Wirtschaftsgebiet durch die deutsche Teilung und die doppelte Staatsgründung. Eine akute Herausforderung bildeten massenhaft deutsche Flüchtlinge in der westdeutschen Bundesrepublik, die sage und schreibe 20% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Kriegszerstörungen und Kapitalmangel sowie die ausstehende Reintegration in die Weltwirtschaft belasteten die junge Bundesrepublik im Wechsel von der Zwangs- zur Marktwirtschaft zusätzlich.
Mit „zurückgestauter Inflation“ (S. 16f.) bezeichnete Wilhelm Röpke die „schwere Krankheit der deutschen Wirtschaft“ als „Mischung von Inflationsdruck und Zwangswirtschaft“. Wir erleben heute mildere Varianten seit Jahren in Deutschland, Europa, im Westen. Die Inflationsbehörden, aka Zentralbanken, haben eine Geldinteressenpolitik verfolgt und sich beim Euro für eine Rettung des Zentralismus und gegen den Wettbewerb von Währungen mit wirtschaftskulturellen nationalen Eigenheiten entschieden.
Als Therapien werden seit Jahren erneut Geldreform und seit Jahrzehnten erneut Wirtschaftsreformen gefordert. Das gilt für den Euro, vor dessen Einführung namhafte Ökonomen treffsicher warnten,[iv] und die bürokratisierte Wirtschaft gleichermaßen, deren Vorteile für wenige zusammen mit deren angeblicher Alternativlosigkeit immer wieder die – im Vergleich zu Marktalternativen – massiven Wohlstandsverluste der Vielen zu überdecken drohen. Ohne ordnungspolitische Kehrtwende lassen sich die verschleppten, tiefgreifenden und schwerwiegenden ökonomischen Probleme in Deutschland und Europa nicht lösen, nur tünchen und noch weiter verschleppen. Etatismus ist weder sozial noch fair, sondern das organisierte Verfolgen eines Sonderinteresses.[v]
Ordnungspolitische Einsichten
Die Aufgabe, die heute vor uns liegt, wurde von Wilhelm Röpke im Sommer 1950 im Abschnitt über „Wesen und Grenzen der Marktwirtschaft“ eingangs unter Punkt 14 (S. 20, kursiv im Original) klar dargelegt:
„Das Wesen der Marktwirtschaft besteht darin, daß sie an Stelle der Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch den Plan und Befehl der Behörde diejenige durch den Mechanismus freier Preise vorzieht und diesen sich frei nach wechselndem Angebot und wechselnder Nachfrage ändernden Preise die doppelte Funktionzuweist, die mannigfachen Probleme der wirtschaftlichen Ordnung (Auswahl der zu produzierenden Güter, Bestimmung der zu produzierenden Menge dieser Güter, Art und Standort der Erzeugung, Verteilung der Erzeugnisse, Aufteilung der Produktionskräfte auf die Verwendungsarten, einheitliche Steuerung des Wirtschaftsprozesses u.a.) zu lösen und den Wirtschaftsprozeß mit den nötigen Antriebskräften für die Höchstleistung in der Produktion zu versehen.“
Diese Wesensbestimmung ist zeitlos gültig. Sie weist zudem auf die Essenz des heutigen Problems hin, das Verdrängen der marktlichen Koordination durch die staatlichen Anordnungen. Der Unterschied ist ein anderer, aber so Fundamental wie der zwischen Markt- und Planwirtschaft.[vi]
Längst ist der Punkt längst überschritten, vor dem Wilhelm Röpke warnte: „wie auch im einzelnen die Eingriffe beschaffen sein mögen, so gibt es doch ein Höchstmaß für die Volkswirtschaft als Ganzes, das nicht überschritten werden kann, ohne daß ein kritischer Punkt erreicht wird, an dem ernste Störungen der marktwirtschaftlichen Gesamtordnung auftreten.“ (S. 23, kursiv im Original) Heute würde man von Tipping Point sprechen.
Die Perspektive zeigt der Befürworter einer Sozialen Marktwirtschaft ebenfalls zeitlos systematisch auf: entweder Marktwirtschaft befreiende Maßnahmen oder „den Kollektivismus nach nationalsozialistischem oder kommunistischem Muster zum lebensbeherrschenden Prinzip .. machen“ (S. 24).
Es gibt m.E. heute besorgniserregende Anzeichen für eine Dunkle Bedrohung und einen fortgeschrittenen Etatismus. Ein Ausweg wird sowohl geraume Zeit benötigen, sobald dieser mit grundlegenden, nicht nur kosmetischen Reformen eingeschlagen wurde, als auch Opfer erfordern, insbesondere von der Staatsbürokratie, und nur mit großer, unaufhörlicher Mühe bewältigt werden können. All dies steht im Einklang mit dem, was Röpke vor 75 Jahren im Gutachten festhielt.
So mahnte Röpke dringende Reformen und deren Fortsetzung an, vor allem die „Notwendigkeit der Beseitigung der noch bestehenden Reste der Zwangswirtschaft, der Hemmungen des Wettbewerbs und des Preismechanismus und der kollektiven Verfälschung der Preiswahrheit.“ und er fügte hinzu, als würde er 2025 schreiben: „Das gilt vor allem von dem … Zentralgebiet des Kapitalmarktes, von der Landwirtschaft, von Devisenmarkt und in zunehmenden Maß auch vom Wohnungsmarkt.“ (S. 32)
Symptome, Schäden, Herausforderungen
Auch bei den Symptomen und analysierten Schwächen des Zustands der Volkswirtschaft fallen bei allen Unterschieden Ähnlichkeiten ins Auge: ein im internationalen Vergleich zurückbleibendes Produktionsniveau, Hemmungen des Wettbewerbs durch staatliche Preiseingriffe, Nachwirkungen der Inflation, wirtschaftspolitische Inkonsistenz, technische und organisatorische Rückständigkeit in Teilen der Privatwirtschaft, besonders der Industrie, mangelnde räumliche Flexibilität der Arbeitnehmer aufgrund von Wohnungsmangel, Facharbeitermangel in Schlüsselbereichen der Wirtschaft sowie eine damals noch nicht überwundene, heute wieder zunehmende Abschließung vom Ausland (Protektionismus).
Zu den Folgen gehören hohe Kosten, die nur durch niedrige Löhne wettgemacht werden können. Schließlich mutet die Forderung Röpkes zeitgemäß an: „Diese Hemmungen und Belastungen zwischen ferner zu dem Schluß, daß Westdeutschland sich noch immer in der schwierigen und zu Opfer zwingenden Phase befindet, in der es durch Ausscheidung aller Irrationalitäten und Unwirtschaftlichkeiten, durch Modernisierung und Überwindung von Rückständigkeiten aller Art ein neues Gleichgewicht und eine Anpassung an heutige Verhältnisse suchen muß.“ (S. 35. im Original mit Hervorhebungen) Wer hier an Entbürokratisierung, KI, Infrastruktursanierung, verlässliche Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen und demographische Herausforderungen denkt, der kann Röpkes Forderung als zeitlos oder zumindest hilfreichen Denkanstoß erkennen.
Politik der Fiktionen als Ursache
Eine heute wenig diskutierte Folge des Wohnungsmangels, der wesentlich durch künstliche Knappheit wie Vorschriften, Genehmigungsverfahren, unrentablen Mietpreisvorgaben, erzeugt wurde, ist die daraus folgende künstliche Kapitalbindung in einer regulierten, wettbewerbsarmen Branche, die für produktive Zwecke und Zukunftsinvestitionen fehlt und bis zur Kapitalaufzehrung durch unterlassene, unrentable Sanierung und Modernisierung der Immobilien reicht. Die Kapitalbindung gilt über den monetären Aspekte hinaus auch für Wissen, Arbeitskräfte und Prozesse in einem weiteren Verständnis von Kapital als Vermögen – etwas zu tun oder zu lassen.
Die Verzerrungen haben im Immobiliensektor durch die Wirtschaftspolitik, Geld- und Zinspolitik eingeschlossen, eine derartiges Ausmaß angenommen, dass Wilhelm Röpkes an anderer Stelle geäußerte fundamentale und drastische Kritik des Wohlfahrtsstaates treffend erscheint. Die Verzerrungen haben eine bizarre Form angenommen. Dazu gehört das Drücken des staatlich genehmigten Preises für die Vermietung von Wohnungen bis unter die Grenze der für den Vermieter anfallenden Kosten und mangels Rentabilität durch Unterlassen von Sanierungen und Modernisierungen teilkompensiert werden müssen. Den massenhaften Verfall der Immobilien kennen wir aus der DDR und ihren grauen Altbausteinwüsten. Das soll wiederum mit staatlicher Umverteilung in Form von Zuschüssen für spezifische Maßnahmen wie Dämmen oder Energiegewinnung konterkariert werden. Regelmäßig werden staatliche Entlastungen nach staatlichen Belastungen gefordert. So wird ein bürokratischer Knäuel befördert, der nach den Präferenzen weniger konstruiert wurde, darunter Politiker, Bürokraten und profitierende Sachverständigen, im Vergleich zu vielen Millionen Bürgern als Vermieter und Mieter. Die Entwirrung des Knäuels produziert unweigerlich Transferverlierer, die sich dagegen wehren. All das wird schließlich gerne gierigen Kapitalisten angelastet und großen Wohnungsbaugesellschaften, die erst durch diese Politik begünstigt wurden.
Wilhelm Röple urteilte vor 75 Jahren: „Nimmt man der Marktwirtschaft mehr und mehr die Möglichkeit, das Wirtschaftsleben auf spontane Weise zu regulieren, so wird es zunehmend unergiebig, stabil und zugleich ungerecht, da es privilegierte Positionen schafft und die Äquivalenz zwischen Leistung und Verdienst stört.“ und er fährt fort: „Macht man durch immer höhere Steuern und soziale Lasten das Produzentenrisiko zu einem Spiel, in dem der Produzent nur noch die Chance des Verlusts, nicht aber die – an sich schon im Durchschnitt geringere – Chance des Gewinns hat, so wird man sich nicht darüber wundern dürfen, wenn die für das wirtschaftliche Gleichgewicht und den wirtschaftlichen Fortschritt notwendige Investitionslust erlahmt.“ (S. 94)
Das beschreibt die Entwicklung der deutschen Wirtschaft 2024/25 mit Deindustrialisierung, Abwanderung und Abbau der Produktion in Deutschland treffend. Es ist die Folge eines von Röpke kritisierten Mittelwegs zwischen freier Marktwirtschaft und staatlich organisierter Wirtschaft unter fortgesetzter Geringschätzung und Abschnürung ersterer.
Was ist zu tun?
Die verbale Ähnlichkeit in ausgesuchten Teilen der Krisendiagnose von vor 75 Jahren und heute kann erschrecken und zugleich auch oberflächlich erscheinen. Erschrecken, weil das 1950 kriegszerstörte Deutschland nach 12 Jahren totalitärer Diktatur und zunehmend extremem Etatismus in der Wirtschaft nur 5 Jahre nach einer totalen Niederlage eine völlig andere Vorgeschichte aufzuweisen hatte als die Bundesregierung ein Gutachten in einer als Krise verstandenen Zeit anforderte. Oberflächlich, weil Welt, Wirtschaft, Staat sich weiterentwickelt haben. Allerdings verändern sich die Gesetze der Wirtschaft nicht. Die einfache Lösung lautet daher: viel mehr Markt, viel weniger Staat – Vorfahrt für die Bürger.
100 Jahre nach Röpke Geburt fanden sich deutsche Ökonomen in einem Symposium zusammen, das die Ludwig Erhard Stiftung ausgerichtet hatte. Es waren zudem Parteipolitiker anwesend. Das Ergebnis ist in einem kleinen Band festgehalten, der im Jahr 2000 erschien.[vii] Bereits vor 25 Jahren war von einer „Dauerkrise“ der „sozialstaatlichen Systeme“ (S. 25, Christian Watrin) die Rede. Zu den Reformversäumnissen und -notwendigkeiten gehörten bereits vor 25 Jahren eine „große Steuerreform“, die „Sozialabgaben für Unternehmen und Arbeitnehmer müssen ebenfalls sinken“ als Teil der Deregulierung des Arbeitsmarkts und Umbau des Sozialstaats wie der ehemalige Bundesverkehrsminister Wissmann forderte (S. 99), für ein Wirtschaftswachstum von „zweieinhalb bis drei Prozent“ – natürlich nicht in einem Jahrzehnt, sondern jährlich. Und der fast zwei Jahrzehnte im Bundeswirtschaftsministerium als Staatssekretär tätige Otto Schlecht stellt fest: „Wenn Röpke heute ein Gutachten wie 1950 abgeben müsste, würde er feststellen, dass es um die deutsche Wirtschaftspolitik schlecht bestellt ist.“ (S. 100). Was würde er nach der Ära Merkel und der Ampel schreiben sowie der nächsten Regierung?
Reformkonzepte braucht es nicht. Arnulf Baring kritisierte in seinem „Bürger auf die Barrikaden“ Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung 2022: „Was geschehen müßte, ist längst allgemein bekannt. Immer neue Kommissionen sind überflüssig.“ Dementsprechend gilt die Weisheit: Achte nicht darauf, was sie sagen, sondern was sie tun.
Mit Blick auf Wilhelm Röpke kann gelten: Die Geschichte bietet eine Grundstruktur und eine Erklärung für die Gegenwart. Man kann mit der Geschichte in einen Dialog treten. Geschichte ist Prolog, bietet jedoch keine Gewissheiten für Prognosen. Für den Wert der besseren Ideen und Taten bietet die Geschichte reiches Anschauungsmaterial.
[i] Siehe dazu auch Norbert Tofall: Wie die Politik die Wirtschaft zerstört in: Cicero am 07.04.2019 https://www.cicero.de/wirtschaft/industriepolitik-merkel-peter-altmaier-demokratie-recht-freiheit und ders.: Die größten Feinde des Westens, Flossbach von Storch Research Institute, Wirtschaft und Politik 29.11.2024 https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/fileadmin/user_upload/files/RI/Kommentare/Files/2024/241129-die-groessen-feinde-des-westens.pdf „die größten Feinde des Westens sind die eigene horrende Staatsverschuldung, die Produktivitäts- und Investitionsschwäche und die schleichende Kapitalaufzehrung.“
[ii] Wilhelm Röpke: Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Analyse und Kritik, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart und Köln 1950, 95 S., in Bibliotheken verfügbar.
[iii] Michael von Prollius: Mehr Marketing als Prinzipientreue. Die Soziale Marktwirtschaft entsprach weder Erhards Intention noch neoliberalen Prinzipien, in: List Forum 47, 61–72 (2021). https://doi.org/10.1007/s41025-021-00216-5
[iv] Über 60 deutsche Ökonomieprofessoren wandten sich anlässlich der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags im Juni 1992 in einem Manifest gegen die Europäische Währungsunion (1998 waren es sogar mehr als 160): „Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.“
[v] Karl-Heinz Ladeur: Der Staat gegen die Gesellschaft, Mohr Siebeck Tübingen 2006.
[vi] Ausführlich behandelt in Michael von Prollius: Wirtschaftsfaschismus. Extremer Etatismus in Aktion, edition g. 131, BoD, Norderstedt 2023.
[vii] Ludwig Erhard Stiftung (Hg.): Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Zum 100. Geburtstag von Wilhelm Röpke, mit Beiträgen von Otto Schlecht u.a., Sinus Verlag, Krefeld 2000, 107 S.