Keine Stimme, kein Echo
Über das Verstummen gesellschaftlicher Resonanzräume und die Hoffnung auf eine neue Kultur
Wir stehen gegenwärtig vor einem Phänomen, das man mit Recht als eine tiefe gesellschaftliche Entfremdung beschreiben kann. Viele Menschen erleben sich zunehmend als abgehängt – nicht nur im ökonomischen oder sozialen Sinne, sondern in einem umfassenderen kulturellen und politischen Kontext. Sie haben das Gefühl, dass die Institutionen, die politischen Eliten, ja selbst jene Instanzen, die sie als „Staatsmedien“ wahrnehmen, in einer Welt leben, die mit ihrer eigenen kaum noch etwas zu tun hat. Diese Welt erscheint ihnen fern, technokratisch, abgehoben – eine Sphäre, in der nicht sie, sondern andere entscheiden, bestimmen, deuten. Was sich hier ausdrückt, ist ein fundamentaler Mangel an Selbstwirksamkeit: das Gefühl, keinen Einfluss mehr zu haben auf das, was geschieht. Nicht gehört zu werden, nicht gemeint zu sein. Die Demokratie verliert dann ihren Sinn, wenn man sich nicht mehr als Teilhabende, sondern nur noch als Zusehende begreift, wenn Versprechen nicht gehalten werden, wenn es keine echte Wahl gibt.
In dieser Atmosphäre der Ohnmacht verschieben sich emotionale und kommunikative Muster. Wir haben vermehrt ein Reagieren im Modus der Aggression erlebt. Wer sich unverstanden und ausgeschlossen fühlt, entwickelt leicht eine Abwehrhaltung: Der andere soll nicht sprechen – er soll schweigen, verschwinden, sich zurückziehen. Oder, auch Variante der Eroberung und Bewahrung der Macht, in den zugespitzteren Spielarten: Er soll mundtot gemacht, „gecancelt“ oder sogar bestraft werden. Die Bereitschaft, den anderen überhaupt noch wahrzunehmen, ihm zuzuhören, sinkt rapide. Was verloren geht, ist der soziale Raum des Dialogs – jener fragile Zwischenraum, in dem sich Verständnis, auch über Differenz hinweg, überhaupt erst bilden kann.
Hinzu kommt das Gefühl vieler, dass selbst das Denken nicht mehr frei sei – dass es nicht genügt, sich gesetzeskonform zu verhalten, sondern dass nun auch Sprache, Bilder, Gedanken bestimmten Normen unterworfen werden sollen. „Sprachregelungen“, so wird es empfunden, greifen tief ein: nicht nur in den öffentlichen Diskurs, sondern ins private Erleben, ins Selbstverständnis. Sie betreffen das eigene Gehirn, die Art und Weise, wie man denkt, wie man fühlt, wie man sich ausdrücken darf. Es ist diese gefühlte, intensiv wahrgenommene Bevormundung, die für viele zur Triebfeder eines politischen Protests wird – auch dort, wo dieser irrational, wütend, destruktiv erscheint und auch, wenn sich dieser selten auf der Straße entlädt.
Was dabei übersehen wird – und doch von zentraler Bedeutung wäre – ist das Wesen echter Resonanz. Resonanz ist eben nicht bloß ein Echo, keine Rückversicherung im eigenen Meinungskorridor. Sie ist die Fähigkeit, den anderen wirklich zu hören – nicht um sich zu bestätigen, sondern um in der Differenz etwas Neues zu entdecken. Resonanz bedeutet: sich berühren zu lassen, auch dort, wo es unbequem ist. Sie entsteht nicht durch Gleichklang, sondern durch die Achtung des Andersseins. Wenn wir diesen Resonanzraum verlieren, wenn das Hören und das Antworten nicht mehr wechselseitig sind, dann zerfällt das Gemeinsame – und an seine Stelle tritt ein Nebeneinander von abgeschotteten Identitäten.
Es ist bezeichnend, dass es heute wieder notwendig erscheint, für eine offene Gesellschaft einzutreten, für eine freie Gesellschaft. Tatsächlich ist dies eine Daueraufgabe und ein vernachlässigtes Vermächtnis der sonst so häufig bemühten Geschichte.
Eine weitere Dimension dieser Entfremdung betrifft unser Verhältnis zur Geschichte. Lange Zeit diente das kollektive historische Gedächtnis als Quelle einer gewissen Vergewisserung: Die Vorstellung, auf einem Weg des Fortschritts zu sein, gab Halt, Richtung, Hoffnung. Doch heute dominiert oft ein anderes Narrativ: Die Vergangenheit erscheint nun vor allem als Last – als Geschichte der Unterdrückung, der Ausbeutung, der Schuld. Kolonialismus, Sexismus, Rassismus, Homophobie – all das sind ernstzunehmende Kapitel der Geschichte. Aber wenn sie zum dominanten Deutungsrahmen werden, dann geht etwas verloren: die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit zu verbinden, ohne sich in ihr zu verstricken. Ein positiver geschichtlicher Resonanzraum, der nicht verklärt, aber auch nicht nur anklagt, ist überfällig – um die Neugier auf das Neue, auf das Kommende, wiederzubeleben.
Nur wer sich als Teil einer Geschichte versteht, die nicht lediglich bricht, sondern auch trägt, kann wirklich an Zukunft glauben. Und nur, wo Menschen sich gehört und gesehen fühlen, entsteht die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören – auch wenn er anders denkt, liebt oder lebt. Diese Räume der Resonanz zurückzugewinnen, ist vielleicht die zentrale kulturelle Aufgabe unserer Zeit.