Keine Weimarer Verhältnisse
Jens Bisky ist ein lesens- und hörenswerter Intellektueller. Der Leipziger Journalist und Autor kann schreiben, erzählen, hat etwas zu sagen – vertritt eine abgewogene Meinung und lässt sich dem linken Spektrum zuordnen.
Über Weimar und den Untergang der Republik wurden viele Regalmeter publiziert. Jede Generation und vielleicht jede krisenbezogene Zeit kann von einem fundierten Weimar Buch profitieren.
Mein subjektiver Eindruck
Positiv: „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“ lässt viele Zeitgenossen aus Politik, Kultur und etwas Wirtschaft zur Sprache kommen und bietet einen O-Ton oder besser viele. Die kommende Katastrophe war kein Geheimnis, wurde indes ex ante weniger als Katastrophe bewertet. Problemfülle, Problemverschleppungen, eine Krise ohne Ausweg und ohne Alternative – zumal zu den straff organisierten, zielstrebigen Nationalsozialisten – war erkennbar. Die damaligen politischen Führungskräfte waren den Herausforderungen nicht gewachsen, überschätzten sich, nahmen sich zu wichtig. Stresemann bildete eine Ausnahme. Einzigartig wirkte die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, dessen politische, nationale, militärische, wirtschaftliche und mentale Folgen, einschließlich eines unvergleichlichen Gewaltpotenzials im Innern, nicht überschätzt werden können.
Negativ: Die Komplexität des Geschehens wird durch die verschiedenen Perspektiven und deren spezifische Voraussetzungen, die unausgesprochen bleiben, kaum noch verstehbar, zumal für Nicht-Fachleute der Geschichte der Weimarer Republik. Das liegt auch daran, dass kein Modell sichtbar wird, das die Entwicklung und den Untergang Weimars mit reduzierter Komplexität abbildet. Viele auch implizite Urteile lenken den Leser, aber verdunkeln das, was erhellt werden könnte. Die Fülle der Details unterhält den Leser, weicht nach einem Höhenrausch aber Ernüchterung und Vergessen macht sich zumindest bei mir rasch breit. Als Niedergangserklärung bietet Jens Bisky drei Momente an: den Zerfall der bürgerlichen Kultur, die strategische Hilflosigkeit der Sozialdemokratie, die Verantwortungslosgkeit konservativer Hasardeure. Wer eine neue, erhellende Erklärung sucht, findet also vor allem eine persönliche Duftnote.
Mir gefallen in der Fülle der Weimar Literatur besonders das schmale Bändchen von Henning Köhler: Die Geschichte der Weimarer Republik (1981) als super kompakte Gesamtdarstellung und Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933 (2005) mit der Deutung einer Bürgerkriegssituation (Link zur Besprechung).
Jens Bisky zeigt: Heute erleben wir in keinerlei Hinsicht Entwicklungen, die der der Weimarer Republik ähneln. Insbesondere fehlen eine gewalttätige links-rechts Konfrontation und eine kohärente rechte Ideologie sowie eine von Beginn an fragile Republik, die mächtige Gegner hat, und nicht zuletzt sozioökonomisch existenzielle Krisen. Untersuchen ließen sich indes die Aspekte Problemverschleppung, Alternativlosigkeit, mangelhafte politische Führungskräfte – vor allem in einer systemischen Perspektive mit dynamischen Ursache-Wirkung-Rückkopplungen.
Damals wie heute gab und gibt es genug Menschen mit Durchblick und ausreichend Informationen für tiefgreifende zeitgenössische Analysen. Nur Ignoranz wird überrascht.
Jens Bisky: Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934, Rowohlt, Berlin 2024, 640 S., 34,00 Euro.