Leviathan und Behemoth: Herrschaft zwischen Ordnung und Chaos
von Stefan Blankertz
Leviathan und Behemoth: Herrschaft zwischen Ordnung und Chaos, auf dem Hintergrund des Oberthemas der Konferenz: Chaosjahre – Irrwege und Auswege.* Was hat es mit Leviathan und Behemoth auf sich, was haben sie mit Herrschaft, Ordnung und Chaos zu tun und was sind die Erkenntnisse, die wir aus der Beschäftigung mit ihnen ziehen können?
In diesem Beitrag werde ich nach einer kurzen Skizze der mythologischen Figuren von Leviathan und Behemoth
- auf den Gebrauch der mythischen Figuren Leviathan und Behemoth eingehen, den Thomas Hobbes (1588-1679) in seiner politischen Philosophie von ihnen macht, um Hobbes’ Leviathan- und Behemoth-Konstrukt dann
- auf die Analyse von Nationalsozialismus und Staatskommunismus anzuwenden und damit die gängige Totalitarismustheorie in Zweifel zu ziehen. Wichtigster Punkt ist die Dialektik des Umschlagens von Ordnung in Chaos, mythologisch gesagt: Leviathan wird Behemoth. Und schließlich werde ich
- die gängige Demokratietheorie und die gegenwärtig Lage der Demokratie mit Hilfe der gewonnenen Einsichten kritisch beleuchten.
Mythologischer Hintergrund
Leviathan ist ein Seeungeheuer. Oft trägt der Leviathan die Züge eines Krokodils, daneben aber wird seine Gestalt als die eines Wals oder einer Schlange beschrieben. Er kommt in einem Psalm und im Buch Hiob vor. Nach Psalm 104 schuf Gott den Leviathan, um mit ihm «zu spielen». Das veranschaulicht die Macht Gottes, für den das furchterregende Wesen aus älteren Mythologien gleichsam ein Spielzeug darstellt. Im Buch Hiob gilt Leviathans Stärke als Sinnbild der Macht des Bösen, der Hiob widerstehen muss.
Auch der Behemoth wird abgesehen von apokryphen Texten bloß im Buch Hiob erwählt und dort nur ein einziges Mal. Behemoth ist im Gegensatz zum Leviathan ein Landmonster, er wird als Mischung aus Flusspferd, Elefant, Ochse und Ziege dargestellt. Obwohl Pflanzenfresser, ist seine Stärke und Gewalt ständig präsent. Sie macht Hiobs Aufbegehren gegen sein Schicksal zu einem eitlen Unterfangen.
Am Ende der Zeiten kommt es nach der Schlacht von Harmagedon zu einem Kampf zwischen Leviathan und Behemoth, bei dem aber keiner siegt. Schließlich erschlägt Gott sie mit seinem mächtigen Schwert. Ihr Fleisch wird den Rechtschaffenen zur Speise geben und ihre Haut dient dazu, Zelte und Baldachine zu machen.
Obwohl also die Erwähnung sowohl des Leviathans als auch des Behemoths in der Bibel spärlich erfolgt, haben die Monster die Volksmythologie und die Kunst angeregt. Beide waren immer negativ besetzt. Auch in der Version als Monster, mit dem Gott «spielt», ist der Leviathan kein Kuscheltier, sondern Sparringpartner für den allmächtigen Gott, der, nachdem er die Arbeit des Ordnens der Welt getan hat, sich etwas ablenkt. Der zwischen Leviathan und Behemoth stattfindende Kampf ist kein Kampf Gut gegen Böse, sondern einer zwischen Ungeheuer und Monster.
Leviathan und Behemoth bei Hobbes: Ordnung schlägt in Chaos um
Eine Veränderung in der Zuschreibung von Gut und Böse trat mit Hobbes im 17. Jahrhundert ein. Bei Hobbes wird der Leviathan zu einer positiven Figur, die die irdischen Verhältnisse ordnet. Die Gegner eines starken Staats nutzen den Begriff «Leviathan» wieder negativ: der Staat als totalitäres Ordnungsprinzip, als Ordnungsmonster. Hobbes sagt übrigens meist Commonwealth – Gemeinwesen – wie die Puritaner, nicht Staat und nur selten Leviathan.
Viel weniger bekannt ist, dass Hobbes auch ein Buch mit dem Titel «Behemoth» geschrieben hat. In Hobbes’ Buch «Behemoth» geht es um den englischen Bürgerkrieg 1642-1649. Chaotische Zeiten. Der Bürgerkrieg endet mit dem Sieg der egalitären Puritaner, der König wird hingerichtet; England, Schottland und Irland erklären sich zur Republik. Unter Führung von Oliver Cromwell errichten die Puritaner eine Diktatur. Zwei Jahre nach Cromwells Tod kam es 1660 zur Restauration der Monarchie. Hobbes ist Zeitzeuge dieser chaotischen Zeiten. Sie stellen für ihn den Naturzustand des Kampfes jeder gegen jeden dar. Um den Kampf zu beenden, ist der Leviathan notwendig, der Vertrag unter den Menschen, die Macht an eine zentrale Instanz zu delegieren, die alle zum Friedenhalten zwingt.
Hobbes hat nun eine Schwierigkeit: Der Leviathan-Staat kann die Menschen bloß mit dem Schwert, mit Gewalt zum Friedenhalten zwingen. Aber indem er dabei Leben, Freiheit oder Eigentum eines Bürgers bedroht, untergräbt er seine eigene Rechtfertigung. Denn ein bedrohtes Leben, eine bedrohte Freiheit, ein bedrohtes Eigentum kann der Bürger auch ohne Staat haben. Zwei Stellen im Leviathan-Text von Hobbes werden meist in der Rezeption unterschlagen: erstens die Stelle, an der er sagt, der Bürger, dessen Leben, Freiheit oder Eigentum der Leviathan-Staat bedroht, falle ihm gegenüber in den Naturzustand zurück, das heißt, er ist nicht mehr an die Weisungen der Ordnungsmacht gebunden; und die zweite Stelle, an der Hobbes sagt, das Recht auf Selbstverteidigung auch bewaffneter Art könne die Ordnungsmacht keinem Bürger nehmen. Das heißt, es gibt keine Entwaffnung der Bürger im Namen der Friedensstiftung des Leviathans. Das ist konsequent: Wenn es für Hobbes denkmöglich ist, dass der Leviathan Leben, Freiheit und Eigentum von irgend einem Bürger bedrohen kann, muss der Bürger sich selbst verteidigen können und zwar sowohl gegen den Leviathan als auch gegen andere Personen, die ihn bedrohen und vor denen der Leviathan die Person nicht oder nicht mehr beschützt.
Wenden wir uns auf diesem Hintergrund dem Behemoth-Konstrukt von Hobbes zu: Offensichtlich geht es gar nicht um den Naturzustand als zeitlichen Ursprung der Menschheitsgeschichte. Der englische Bürgerkrieg ist eine Periode, die aus dem Zusammenbruch eines Leviathans hervorgegangen ist. Das heißt, es kann vorkommen, dass der Leviathan nicht nur Leben, Freiheit oder Eigentum eines einzelnen Bürgers oder einer kleinen Gruppe von Bürgern bedroht, sondern innere Konflikte haben dazu geführt, dass der Leviathan sich in zwei oder mehr feindliche Lager spaltet. Selbst wenn wir davon ausgehen, wovon Hobbes nicht ausgehen konnte, dass es den Globus umspannend nur noch einen einzigen Leviathan gibt, ist es denkbar, dass erneut feindliche Lager entstehen. Der Leviathan beendet den Krieg nicht, er verlagert ihn aus der Region jeder gegen jeden in die Region der einen Gruppe gegen eine andere Gruppe, die miteinander um die Vorherrschaft im Leviathan ringen.
Hobbes hatte neben dem englischen Bürgerkrieg noch eine zweite geschichtliche Periode im Sinn. Im Jahr 1629 hatte er Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Kriegs von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. zwischen den Verbündeten von Athen und den Verbündeten von Sparta übersetzt. Auch im Peloponnesischen Krieg zwischen den griechischen Stadtstaaten ging es nicht um einen Krieg innerhalb einer vor-staatlichen Gemeinschaft von Menschen, welcher in den Vertrag über die Ausstattung einer Zentrale mit Macht endet, sondern zwischen sich bekriegenden unterschiedlichen Staaten oder zerbrochenen Staaten.
Halten wir fest: Hobbes Naturzustand ist nicht der zeitliche Urzustand der vor-staatlichen menschlichen Gesellschaft, sondern kennzeichnet die Situation zusammenbrechender Staaten. Der einmal eingerichtete Leviathan, wie mächtig er sein mag, wie allein auf weiter Flur er auch stehen mag, kann demnach nicht garantieren, dass ein Rückfall in den Naturzustand sich ereignet. (Adorno: Rückfall in die Barbarei.)
Der Leviathan-Staat kann nicht garantieren, dass es zu keinem Rückfall in den Naturzustand kommt. Hobbes unterstellt, dass niemand den Krieg jeder gegen jeden (vernünftig) wollen kann und darum eben alle an der Aufrechterhaltung der zentralen Rechtsinstanz interessiert sein müssen. Die mag richtig sein. Aber aus dem Interesse, den Krieg jeder gegen jeden zu beenden, folgt eben logisch nicht eine bestimmte Politik des Leviathans – des Gemeinwesens, des Commonwealth, des Staats. Es kommt möglicherweise nicht nur zu einem Konflikt zwischen Leviathan und einzelnen seiner Bürgern, sondern auch zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Kräften innerhalb des Leviathans. Sie sind verschiedener Auffassung darüber, wie das Gemeinwesen zu organisieren, wie die Ordnung am besten aufrecht zu erhalten sei. Nicht nur das. Im Bürgerkrieg folgt jede Partei ihren eigenen Interessen. Das übergeordnete Interesse, den Naturzustand zu überwinden, ist faktisch gar nicht stark genug, um einen Frieden herbeizuführen. Der Frieden wird durch die militärische Überlegenheit gestiftet und muss insofern die eigene Aufhebung bereits in sich tragen: Die unterlegene Partei hat keinem Vertrag zugestimmt, sie ist militärisch besiegt und wird, sobald sie sich dazu in der Lage sieht, erneut zu den Waffen greifen.
Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis der Analyse von Hobbes’ Konstrukt: Während er versucht, philosophisch eine zentrale friedensstiftende Instanz zu entwerfen, der sich niemand, der bei Sinnen ist, entziehen kann, muss er feststellen, dass bei der praktischen Anwendung genau das Gegenteil des Intendierten herauskommt: Es kommt keine friedensstiftende Instanz heraus, sondern die Fortsetzung des Naturzustands auf einem höheren Niveau der sozialen Organisation. Der ordnende Leviathan im Sinne Hobbes‘ ist ein Gehirngespinst. Die Realität ist das Chaos, das Behemoth hinterlässt.
Hobbes’ Behemoth bei Franz Neumann: Das Chaos der Ordnung
Ich mache nun einen gewaltigen zeitlichen Sprung zu dem Autor, dessen Buch mich bereits vor vielen Jahren mit der Leviathan/Behemoth-Problematik vertraut machte. Während Hobbes’ Konstrukt des Leviathans in der politischen Philosophie gängig wurde, wurde Hobbes’ Konstrukt des Behemoths weit seltener weitergeführt. Einer der das getan hat, ist der Marxist Franz Neumann (1900-1954), ein Soziologe aus dem Umkreis der sogenannten Frankfurter Schule. Bereits 1942 veröffentlichte Neumann in englischer Sprache eine Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft unter dem Titel «Behemoth». Eine deutsche Übersetzung erschien erstmalig 1977.
Indem Franz Neumann die nationalsozialistische Herrschaft mit dem Hobbes’schen Konstrukt des Behemoths verband, widersprach er der gängigen Totalitarismus-Theorie. Da die Totalitarismus-Theorie nach dem Krieg im Westen den ganzen Diskurs dominierte, wurde Franz Neumann verdrängt, ausgegrenzt. Die gängige Totalitarismus-Theorie besagte: Die Systeme des Kommunismus und des Faschismus sind von Staaten als monolithische Blöcke bestimmt. Den ganzen Staatsapparat und alle seine Teile durchdringt die herrschende Ideologie, also entweder der Marxismus-Leninismus oder die Ideologie des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus. Alle Teile des Staatsapparats handeln im Sinne dieser Ideologie uniform und unterwerfen die Bevölkerung ihren Plänen. Die Wirklichkeit entsprach dieser Theorie nie, und zwar aus genau dem Grund, warum Hobbes’ Leviathan-Konstrukt im Anfang bereits der Theorie nach scheiterte: Aus der Ideologie, die einheitlich sein mag, lässt sich gar keine einheitliche Politik zwingend ableiten. Nicht nur das, die verschiedenen Teile des Staatsapparats haben jeweilige Eigeninteressen, die sie verfolgen und die sich nicht harmonisch zueinander fügen. Die Ideologie fordert den Leviathan, die Realität ist Behemoth, ein offener Bürgerkrieg oder ein versteckter, virtueller Bürgerkrieg der jeweiligen Teilinteressen.
Hier eine kleine Werbeeinblendung. Besser noch als Franz Neumanns Buch ist das von Michael von Prollius, das ich im Frühjahr in meiner edition g. ediert habe. «Wirtschaftsfaschismus: Extremer Etatismus in Aktion». Die These von Michael von Prollius lautet, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Kommunismus sowjetischer Prägung und Faschismus gebe. Der Staatskommunismus hatte den Anspruch, die Gesellschaft als Ganzes und vor allem die Wirtschaft einem zentralen Plan nach dem Gesichtspunkt des Allgemeinwohls zu unterwerfen. In diesem Sinne stimmt der Anspruch genau mit dem Hobbes’schen Konstrukt des Leviathans überein; ein Konstrukt, das sich freilich nicht umsetzen lässt. Der Faschismus dagegen ging überhaupt nicht von einem zentralen Plan aus, sondern dass die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte vollständig in jeweils eigenen Organisationen zusammengefasst werden. Die gemeinsame Ideologie sollte die Organisationen der gesellschaftlichen Kräfte auf Harmonie und auf das Allgemeinwohl verpflichten. Dies war genauso illusionär wie die Umsetzung der sozialistischen Planwirtschaft. Zwei hervorstechende Beispiele. In der kurzen Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft – zum zeitlichen Vergleich: sie dauerte weniger lange wie die Kanzlerschaft von Angela Merkel –, also in dieser kurzen Zeit kam es bereits zu gravierenden Konflikten zwischen der Arbeitsfront (der Organisation der Arbeiter) und dem Reichsnährstand (der Organisation der Landwirtschaft). Arbeitsfront und Reichsnährstand entwickelten auf der Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie völlig konträre Zukunftsvisionen der Gesellschaft, die einen wollten eine durchgreifende Industrialisierung, die anderen wollten die Industrie mehr oder weniger am liebsten völlig abschaffen. Ein zweites Beispiel ist die Bildung. Es entstand eine fortgesetzte Rivalität zwischen Schulbehörden und den Massenorganisationen der Jungend, der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel. Die Rivalität der gesellschaftlichen Organisationen führte dazu, dass der Anspruch der totalitären Ordnung, die nicht durch Parteiengezänk und demokratische Rücksichten oder Empfindlichkeiten gestört wird, sich in Chaos wandelt. Nicht Leviathan herrscht, sondern es herrscht Behemoth.
Die Totalitarismus-Theorie erfüllte im Kalten Krieg der ersten Jahrzehnte nach 1945 die ideologische Funktion, den Gegensatz zwischen den totalitären Regimen des Kommunismus und Faschismus auf der einen, und den westlichen Demokratien auf der anderen Seite deutlich hervortreten zu lassen.
Demokratie: Leviathan oder Behemoth?
Wenn sich nun herausgestellt hat, dass es den Leviathan gar nicht gibt, sondern dass er nur ein verkleideter Behemoth ist, was macht das mit der Demokratie-Theorie?
Um noch mal auf das Buch von Michael von Prollius zurück zu kommen: Sein verstörendes Fazit lautet, dass der Faschismus sich in wirtschaftlicher Hinsicht weltweit durchgesetzt habe. Die herrschende Politik nimmt nicht an, aus den anarchischen Marktkräften gehe eine spontane Ordnung gegenseitiger Hilfe hervor, sondern die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte sollten sich organisieren; das Aushandeln von Leitlinien zwischen den Kräften werde dann eine sinnvolle Ordnung des Gemeinwohls schaffen. In der Bundesrepublik Deutschland stehen für diese Idee paradigmatisch die Gewerkschaften und die Arbeitsgeberverbände. Ihre Macht erhalten sie vom Staat, aber der Staat gibt ihnen nicht vor, was sie auszuhandeln haben. Stichwort: Tarifautonomie.
Diese Verfahrensweise des Aushandelns unterscheidet die Demokratien vom Faschismus und Kommunismus: Weder im Faschismus noch im Kommunismus gab es eine Verfahrensweise, wie Interessengruppen miteinander in den Prozess des Aushandelns gehen, denn der Ideologie zufolge durfte es ja gar keine unterschiedlichen Interessen geben. Die Konflikte fanden ungeordnet, chaotisch und zum Teil blutig statt. Die unterlegene Partei stand in der Gefahr, geköpft zu werden.
In diesem Sinne ist die reale Demokratie sowohl menschlicher als auch im Sinne von Hobbes stabiler als Kommunismus und Faschismus. Es gibt eine geordnete Möglichkeit, unterschiedliche Interessen zu vertreten, eine geordnete Möglichkeit in den Konflikt zu treten und eine geordnete Möglichkeit, die Konflikte beizulegen.
Aber diese geordneten Möglichkeiten des Umgangs mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konflikten verschieben das Problem nur. Übergangen wird, dass am Ausgangpunkt der Demokratie ein von heute aus gesehen relativ niedriger Level an Eingriffen ins soziale und wirtschaftliche Leben stand, ein niedriger Interventionslevel. Je höher der Interventionslevel wird, um so unerbittlicher werden die Konflikte geführt, auch wenn es formale Regeln der Konfliktklärung gibt. Denn je höher der Interventionslevel ist, um so mehr Leuten wird geschadet und so intensiver wird ihnen geschadet. Wem aber Schaden droht, den tröstet nicht, dass er auf demokratisch-friedlichem Wege verursacht wurde; wem geschadet wird, der will den Schaden abwenden. Je höher der Interventionslevel ist, um so mehr Leute wehren sich. Und schließlich: Je höher der Interventionslevel ist, um mehr häufen sich Ungereimtheiten. Es kommt zu unerwünschten Nebenwirkungen der Interventionen.
Es gibt nun zwei Faktoren zu bedenken: 1. die härter werdenden Abwehrkämpfe von immer mehr Menschen gegen Schäden, die ihnen andere gesellschaftliche Interessengruppen via der demokratischen Verfahrensweisen zufügen. Und 2. Faktor: die immer häufiger auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen von Interventionen in das soziale und wirtschaftliche Leben, die zwar demokratisch erzeugt wurden, aber nicht mehr demokratisch kontrollierbar sind.
Diese beiden Faktoren führen dazu, dass auch der demokratische Leviathan zum Behemoth wird. Auch Demokratien lassen Ordnung und Herrschaft in Chaos umschlagen.
Mit Nachdruck will ich auf dem «auch» in diesem Satz bestehen: Auch Demokratien lassen Ordnung und Herrschaft in Chaos umschlagen. Die Alternative zum Chaos der Demokratie ist kein Rückgriff auf undemokratische Formen der Konfliktlösung; sie sind nicht besser oder weniger chaos-anfällig. Im Gegenteil, sie sind chaos-anfälliger, gerade weil sie keine friedlichen Verfahrensweisen zur Auseinandersetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen haben. Diese Auseinandersetzungen verlaufen in nicht-demokratischen Staaten immer und notwendigerweise chaotisch, meist auch recht brutal.
Die Lösung ist nicht ein Abbau der Demokratie zugunsten nicht-demokratischer, diktatorischer Verfahrensweisen, sondern ein Abbau des Interventionslevels, im Idealfall auf null. Das wäre dann Anarchie. Wenn der Weg dorthin auch weit erscheinen mag, man muss irgendwo beginnen. Anarchie, das heißt: weder Leviathan noch Behemoth.
* Quelle: Vortrag von Stefan Blankertz: Achte große ef-Konferenz: «Chaosjahre – Irrwege und Auswege», Zinnowitz, Usedom, 15. bis 17. November 2024