Marseille 1940: ergreifender Stoff, verwirrende Einzelschickale
Marseille 1940: ergreifender Stoff, verwirrende Einzelschickale

Marseille 1940: ergreifender Stoff, verwirrende Einzelschickale

Marseille 1940: ergreifender Stoff, verwirrende Einzelschickale

Die Flucht deutscher Literaten und Intellektueller 1940 bis 1841 nach und über Marseille in eine freie Welt, vorwiegend die USA, reißt den Leser mit. Uwe Wittstock erzählt dicht und gestützt auf einen Fundus an Quellen. Die Schicksale sind ergreifend. Permanente Verfolgungsgefahr, Angst als Regime-Gegner von den Deutschen aufgegriffen zu werden, Internierung in französischen Lagern, abhängig von absurder, zuweilen perfider Bürokratie, der Willkür ausgeliefert, der Verlust von Status und bürgerlicher Existenz sowie körperliche und geistige Entbehrungen brechen über viele Literaten hinein. Sie haben die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Plötzlich schlägt alles um. Die Wehrmacht erobert Frankreich in rasendem Tempo. Marseille wird zum überfüllten Fluchtpunkt.

Ich finde es faszinierend zu beobachten, wie Netzwerke entstehen. Individuelles Gelingen und Versagen, Glück und Unglück liegen dicht bei einander. Freunde sind wertvoll. Die zunehmend erdrückende militärische und geheimdienstliche Macht der Deutschen schnürt Handlungsoptionen ein, nährt Opportunismus und Kollaboration. Die Schicksale nach Flucht und Krieg sind so individuell und musterhaft wie die Flucht selbst.

Alle dichten Schilderungen sollten uns nicht verleiten zu glauben, wir könnten uns heute realistisch in die Zeit hineinversetzen.

Ein gravierendes Manko: Mir ist es schwergefallen, die vom Autor zerrissenen Handlungsstränge zusammenzuknüpfen. Ein phänomenales Namensgedächtnis würde helfen. Das Buch besteht aus hunderten Blitzlichtaufnahmen. Selten wird ein Teil des Schicksals der vor allem linken, vielfach sozialistischen Intellektuellen zusammenhängend erzählt.

Zuletzt: Tragisch! Das Erlebnis von Vertreibung und Flucht vor einem autoritären Regime und seinen Häschern hindert Anna Seghers nicht, in die menschenverachtende SED einzutreten. Sie wurde Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, der eng mit der Parteiführung der ostdeutschen Diktatur verbunden war.

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, C.H. Beck, 7. Aufl. München 2024.