Neoliberalismus – nun auch noch in der Geschichtswissenschaft
Die Geschichtswissenschaft hat den Neoliberalismus entdeckt. Ein Blick in aktuelle Rezensionen vermittelt den Eindruck, dass Begriff und Vorstellungen über das, was der Neoliberalismus war, nicht präziser werden, dass die Differenzierungen mitunter zu einem diffuseren Bild führen, dass die ökonomischen Kenntnisse für eine Beurteilung fundierter sein dürfen, und schließlich, dass linke, also nicht liberale, sondern weltanschauliche Beurteilungen eines anderen Lagers auch in der Geschichtswissenschaft die Aussagen beeinflussen. Das sollte nicht überraschen, genauso wenig wie einige anregende und manche seltsam anmutende Untersuchungen.
Ansatzpunkt für die nachfolgenden Beobachtungen sind aktuelle Buchbesprechungen im Online Rezensionsjournal Sehepunkte (24 (2024), Nr. 9), das seit über 20 Jahren in München angesiedelt ist. Die Rezensionen von Publikationen mit dem Thema Neoliberalismus sind im bezeichnenderweise (?) betitelten Forum “Ein Gespenst geht um in der Welt: Zur Geschichte des Neoliberalismus” untergebracht. Bekannte schräge Untertöne und Stereotype finden sich schon in der Einleitung von Christian Marx: “Entfesselung der internationalen Kapitalmärkte”, “Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche” “selbst das einzelne Individuum sollten fortan unternehmerisch handeln”.
Das findet seine Fortsetzung in, wenn auch nur punktuell kritischen und ökonomisch schief erscheinenden Tönen gegenüber positiven Urteilen über den Neoliberalismus wie von Sebastian Edwards: The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism. Nele Falldorf rezensiert: “Zwei Jahre später erlebte die chilenische Wirtschaft eine schwere Rezession. Ursache hierfür war insbesondere der weitgehend unregulierte Bankensektor, der von linken Kritikern als Ergebnis der Schocktherapie angesehen wird.” Vielleicht ist das meine Übersensibilität, die mich an die überflüssigen Kommentare auf Wikipedia erinnern, wo ständig linke Kritiker angeführt werden und infolgedessen eine von dort aus rechte Position kritisiert wird. Das Buch scheint lesenswert zu sein.
Apropos, and here it comes: “Eine neoliberale Ära – so lautet die verbreitete Charakterisierung der britischen Geschichte seit den 1970er Jahren. Demnach habe sich in Großbritannien eine rechte Ideologie von freien Märkten und Wohlfahrtsstaat-Abbau durchgesetzt und erst mit der Finanzkrise 2008 an Dominanz verloren.” schreibt Juliane Clegg einleitend über Aled Davies / Ben Jackson / Florence Sutcliffe-Braithwaite (eds.): The Neoliberal Age? Britain since the 1970s. Allerdings bilden die Rezensentin und viele Beiträge des Sammelbandes eine Ausnahme. Hier scheint, vielleicht einem flüchtigen Überblick geschuldet und der zwangsläufig knappen Besprechung zu diversen Aufsätzen, fortgesetzte Differenzierung letztlich in einer Auflösung eines Gegenstands zu münden, was Unverständnis fördert, weil alles immer auch anders betrachtet werden kann.
Vollends links und damit daneben (oder in Opposition zum Liberalismus) klingen für mich Formulierungen wie “das Konzept andererseits irgendwie hegemonial gewesen zu sein” und der nicht zu korrigierende Mythos “während der 1980er und 1990er Jahre eine Rückkehr in die Arme des rudimentären US-Wohlfahrtsstaates” wie sie in der Besprechung von Marcus Böick von Nathalie Lévy / Alexis Chommeloux / Nathalie A. Champroux et al. (eds.): The Anglo-American Model of Neoliberalism of the 1980s. Construction, Development and Dissemination auftauchen. Zustimmen würde ich seinem abschließenden Urteil: “Es hat sich dergestalt eine Kultur der Dauerklage und des Lamentierens über “den” Neoliberalismus etabliert, der dann oft implizit mit einer vermeintlich heilen (Nachkriegs-)Zeit vor den 1970er Jahren kontrastiert wird. Letztlich ist auch das hier zumindest in Teilen vollführte, vorbildlich transdisziplinäre Neoliberalismus-Bingo selbst ein gut laufendes Business, das internationale Konferenzen finanziert und Sammelbände wie diesen hervorbringt.”
Etatistisch geht es weiter: “des von Staatsfeindlichkeit und Marktgläubigkeit erfüllten republikanischen US-Präsidenten Reagan” schreibt Arndt Neumann in seiner Besprechung von Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus. Dessen Urteile verdecken den Blick auf das lesenswerte und weniger ideologische Buch über die US-Wohnungspolitik der Autorin. Dem Rezensenten empfehle ich die Lektüre von Thomas Sowell: The Housing Boom and Bust. Vielleicht findet er auch den wissenschaftlichen Vergleich mit illustrierenden Bildern von Stadtteilen, die von Bomben im Zweiten Weltkrieg getroffen wurden mit Stadtteilen, die sich schwer davon unterscheiden lassen als Folge staatlicher Wohnungspolitik.
Nikolas Dörr scheint in seiner Rezension von Ilkka Kärrylä: Democracy and the Economy in Finland and Sweden since 1960. A Nordic Perspective on Neoliberalism den Niedergang der sogenannten Demokratisierung der Wirtschaft, Wirtschaftsdemokratie aka Sozialismus, in Schweden und Finnland zu bedauern. Die Kollektivismen implodierten. Neoliberale Reformen wurden unausweichlich. Diese Seite und die Wohlfahrtsentwicklung kommen zumindest in der Rezension zu kurz, was auch für das Allgemeinwissen gelten dürfte.
Lesenswert scheint zudem das Buch Leon Wansleben: The Rise of Central Banks. State Power in Financial Capitalism zu sein, das den Schwerpunkt auf die 1970er Jahre legt. Der Rezensent Matthias Kemmerer hebt hervor: “Nach Wansleben müsse die akademische Kritik am Neoliberalismus (den er nicht theoretisiert, sondern als zeitgenössische Ära gesetzt sieht) stärker die Verteilungseffekte von Geldpolitik untersuchen.” und “Die Neoliberalismus-Kritik überschätze ferner, so Wansleben, die Wirkmächtigkeit von Ideen; diese kämen in Organisationen nicht so sehr zum Tragen.” außerdem: führte “seit den 1970er Jahren zu einer Spirale der Selbstermächtigung, die ein nicht nachhaltiges Finanzsystem am Laufen halte: Einerseits verstetige und vergrößere das Zentralbankhandeln die soziale Ungleichheit via Vermögenspreisinflation, andererseits befördere es – trotz gleichzeitiger Stabilitätsillusion – eine permanente systemische Instabilität.”
David Irion scheint mit seinem Rezensionsgegenstand Quinn Slobodian: Crack-Up Capitalism. Market Radicals and the Dream of a World Without Democracy übereinzustimmen, dass Politisierung und Staatseinfluss besser als Selbstbestimmung auf Märkten sind, weshalb beide das Aufbrechen etatistischer Strukturen durch Enterprise Zones kritisieren, allerdings deren Bilanz nicht vorlegen. Gerade das Beispiel Hong Kong spricht Bände gegen ihre Auffassungen. Insofern könnte eine Lektüre lohnen, die den etatistischen Ballast ignoriert und sich auf die vielen behandelten Sonderwirtschafts- und Sonderrechtszonen konzentriert.
Wer stattdessen ein kurzes publizistische Plädoyer für den Neoliberalismus von einem klassischen Liberalen Lesen möchte: bitte sehr ; ).