Sollte Deutschland mehr Milei wagen?
Sollte Deutschland mehr Milei wagen?

Sollte Deutschland mehr Milei wagen?

Sollte Deutschland mehr Milei wagen?

Tagespost, 23.01.2025, S. 30, gekürzte Fassung des nachstehenden Textes

 

 

Pro Milei

Javier Milei polarisiert. Weltweit genießt er eine der höchsten Zustimmungsraten. Anfang Januar 2025 lag diese laut Morning Consult Pro bei 64 %, die Ablehnungsrate nur bei 22 %. Gerade für junge Argentinier ist Mileis Politik der letzte Ausweg aus Elend und Hoffnungslosigkeit, die Hoffnung, nicht auswandern zu müssen.

Die Argentinier leiden unter einem verschleppten Staatsbankrott, den vielfach korrupte Regierungen mit aufgeblähter Bürokratie und überbordenden Ausgaben für alles und jeden verursacht haben und den der IWF durch außergewöhnliche Kredite verschleppt hat. Wenn Staatsschulden schneller wachsen als die Wirtschaft führt diese Politik in Bankrott und Hyperinflation. Die argentinische Zentralbank hat mit ihrer Inflationspolitik die Menschen ausgezehrt und verarmt. Milei hat die Geldentwertung bereits halbiert durch Schrumpfen des Staates. Eine heilsame Bereinigungsrezession hat begonnen mit der Chance, den weltweit einzigartigen Abstieg einer wohlhabenden Nation umzukehren.

Argentinien ist nicht Deutschland – heute. Kann ein anarchokapitalistischer Visionär und selbsterklärter liberal-libertärer Staatspräsident, ein Ökonom, der den Mainstream für die klassisch liberale Österreichische Schule verlassen hat, eine Inspiration für Deutschland sein?

Politische Etiketten schaffen Identitäten und trennen. Javier Milei bezeichnet Leben, Freiheit, Eigentum als seine höchsten Werte. Er tritt für Freihandel, freie Märkte, fiskalische Disziplin, Geldwertstabilität ein – das klingt nicht gerade abschreckend. Er ist überzeugt, dass (nur) seine ökonomischen Einsichten das größtmögliche Wohl für alle und insbesondere die armen Menschen ermöglichen. Theorie, Empirie, Nobelpreisträger stützen viele seiner Überzeugungen: Freiheit und Wohlfahrt für Arme sind stark korreliert. Zentralbanken sind Inflationsbehörden. Sozialismus ist antisozial. Der Staat verfolgt Eigeninteressen. Behörden ordnen an, Märkte koordinieren. Wettbewerb entmachtet. Milei nimmt kein Blatt vor dem Mund und spricht seine Sicht der Realität ungeschminkt aus. Ein Exzentriker, keine „Mutti“, kein „Scholzomat“.

„Meine Verachtung für den Staat ist unendlich“ sagte Milei dem Economist. Diese rigide, radikale Aussage ist zentral für Libertäre und kann kontraproduktiv wirken. Richard A. Epstein ist einer der am meisten zitierten Rechtswissenschaftler der USA. Sein Podcast heißt „The Libertarian“, obwohl er längst klassisch Liberalismus vertritt. Beide Freiheitsströmungen verbindet viel, insbesondere in der Gegnerschaft zu Sozialismus bzw. Sozialdemokratie. Beide lehnen staatliche Monopole ab, solange privater Wettbewerb möglich ist. Klassische Liberale argumentieren konsequentialistisch und lehnen Verträge zu Lasten Dritter ab, während Libertäre deontologisch die Durchsetzung von Vertragsfreiheit absolut setzen. Eine Minimal- und Nullstaat-Debatte ist angesichts der größten Ausdehnung des Staates, in Deutschland nach 1945, lediglich eine Gedankenübung.

Mehr Milei wagen?

Wer der Ansicht ist, es gibt keinen nennenswerten Reformbedarf, könnte Milei allenfalls unterhaltsam finden und seine Vermittlung ökonomischer Einsichten achten. Wer indes überzeugt ist, dass Deutschlands Probleme – Überalterung, Bürokratisierung, Energiekosten, schrumpfende Wirtschaft und Substanzverzehr, unzureichende Infrastruktur, veraltete Verwaltung, unattraktiver Wirtschaftsstandort, ersatzlose Deindustrialisierung, seit 1980 ausstehenden Sozialreformen, mangelnde innere Sicherheit und Verteidigung usw. usf. – Strukturreformen erfordern, der könnte bei Milei Anregungen finden. Thema: vom fetten zum fitten Staat.

Wer glaubt, das politisch-bürokratische Personal sei ausreichend für notwendige Reformen, verfüge über ausreichend Kompetenz, richtige Visionen und die Tatkraft, diese umzusetzen, kann entspannt wählen und zuwarten. Wer angesichts einer stark alternden Bevölkerung mit rasch steigenden Ausgaben für Renten und Gesundheit, bei sinkenden Steuern durch ausscheidende Baby Boomer und nicht mehr existierende Unternehmen kritisch auf die Staatsfinanzierung blickt, der könnte einen modernen Ludwig Erhard suchen, unangepasst, systemfremd, gegen die herrschende Meinung, mit viel Bürgerkommunikation.

 „Es muss alles getan werden, um den Schwerpunkt der Lebensverantwortung wieder zu verlegen vom staatlichen Zentrum an die Stelle, die gesundes Denken und geschichtliche Erfahrung als die natürliche Seite verlangt, hin zum einzelnen inmitten seiner Familie, zu den dezentralisierten, staatsfreien Organisationen, zu den breiten Schichten der Völker. An dieser Aufgabe … entscheidet sich das Schicksal unserer Kultur, deren Wesen Freiheit und Persönlichkeit sind.“ Diese Worte könnten von Javier Milei stammen. Geschrieben hat sie Wilhelm Röpke, einer der Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland. Was wäre, wenn Milei am Wendepunkt einer neuen Zeit steht? Wie würde Deutschland aussehen, wenn die Lebensverantwortung nicht mehr weit überwiegend beim Staat, seiner Bürokratie und deren Anordnungen liegt, sondern bei den Bürgern, in ihren Vereinigungen und Unternehmen?

Michael von Prollius