Überg­angsherrschaft
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Kolja Zydatiss sorgt sich beim Freiblickinstitut um die liberale Demokratie

Der Buchtitel ist Programm. Interregnum: Was kommt nach der liberalen Demokratie?

Kolja Zydatiss und Mark Feldon gelingt es, politisch-kulturelle Verfallserscheinungen unserer Zeit auf den Punkt zu bringen und so Gefährdungen der liberalen Demokratie zu identifizieren. Fundamentale Problem kommen von links, die problematischen Reaktionen von rechts.

Inspiriert und informiert durch die Buchvorstellung mit Diskussion im Berliner Salon des Freiblickinstituts durch den Journalisten und Autor Kolja Zydatiss am 26.09.2024 kann ich folgende Eindrücke vermitteln.

Überblick

Das Buch zeichnet sich durch drei Teile aus:

  1. Das Ideal der liberalen Demokratie wird beschrieben und deren Verfallserscheinungen werden diagnostiziert, darunter Parawissenschaften wie sie im politisch linken Spektrum verbreitet seien, ferner massive Freiheitseingriffe, Gesinnungspolitik und verordnete Wenden wie die Energiewende.

Eine zentrale Erkenntnis lautet: Die liberale Demokratie bedarf (wieder) einer moralisch-kulturellen Substanz.

  1. Die liberale Demokratie werde von einem Hyperliberalismus bedroht – ein sperriger Begriff, der einer Mischung aus Etatismus und Moralismus gleicht und sich in drei autoritären Regimen zu äußern scheint: Vielfalt, Ökologismus, Transhumanismus.
  2. Antipoden oder Reaktionen auf den Hyperliberalismus werden skizziert: Sozialkonservatismus, autoritärer Stadtstaat und Neofaschismus.

Der zu Diskussionen, Widerspruch und Bestätigung einladende Band bietet viele anschauliche Beispiele aus unterschiedlichen Regionen der Welt.

Einblick

Autor und viele Teilnehmer der Veranstaltung waren vielfach ähnlicher Ansicht, was die laufende politische Transformation der Gesellschaft betrifft, die perspektivabhängig auch als Zersetzung, Kulturkampf, Befreiung von allen Konventionen und vor allem als – von den Autoren vernachlässigte – Machtpolitik im Deckmantel betrieben wird. Die liberale Demokratie befindet sich, so eine zentrale Annahme des Buches, in einer Übergangsphase und kann folglich nicht mehr als das reine Gegenteil von autoritären Staaten mit ihren Propagandaministerien gelten. Chancen werden abhängiger von der Nähe zur Herrschaft, die soziale Mobilität sinkt, die individuellen Freiheiten werden auch als Produktivkräfte eingeschnürt, so der Befund.

Das liegt wesentlich, so die beiden Autoren, an Parawissenschaften, dem Vordringen linker Küchenvorstellungen vor allem in die Staatssphäre. Dazu gehörten antikapitalistische Agrarwirtschaft genauso wie Wokismus und der vermeintliche Schutz jedweder als benachteiligt angesehenen Gruppe. Wuchernde NGOs nutzen eine Kreislaufwirtschaft mit dem Staat, so Kolja Zydatis. Überfremdung trete an Integration, die selbst bereits als Bevormundung angesehen werde. Massive Freiheitseingriffe in der Pandemie sind Teil der Transformation genauso wie die zunehmend dokumentierte Tatsache, dass die Angeprangerten regelmäßig Recht hatten. Dass all dies ohne Aufarbeitung und (personelle) Konsequenzen geschehe, flankiert von Gesinnungsmaßnahmen wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, trifft inzwischen weithin sichtbar auf empörte Teile der Bevölkerung.

Ein m.E. zentrales, bisher zu wenig diskutiertes Ergebnis dieser Transformation brachte Kolja Zydatiss mit einer Anleihe des berühmten Böckenförde-Zitats zum Ausdruck – eine liberale Demokratie lebe von einer moralischen Substanz, die sie selbst nicht erzeugen könne. Diese moralische Substanz werde aufgezehrt und damit das Fundament der liberalen Demokratie.

Zweifel hegten die Teilnehmer am Begriff Hyperliberalismus und an der Diagnose, die laufenden Entwicklungen ließen sich wesentlich als übersteigert liberal bezeichnen. Vulgärliberalismus, Hypermoralismus, Etatismus, Tugendterror und Fürsorgeregime waren Alternativen, die in diesem Zusammenhang thematisiert wurden.

Die Entwicklung der liberalen Demokratie in Richtung eines Hypermoralismus, begleitet von einem Machbarkeitswahn, lässt sich für die Autoren durch drei Herrschaftsregime fassen:

  • Vielfaltsregime – Schlagworte: kultureller Relativismus, Multikulti (= Kulturkampf), kippen ins Autoritäre,
  • Ökoregime – Schlagworte: Machbarkeitswahn, machtpolitische Anmaßungen wie individuelle CO2 Budgets und autoritäre Energie- und Verkehrswende,
  • Transhumanismus-Regime – Schlagworte: Geschlechtsumwandlungen von immer jüngeren Menschen, Corona-Impfung mit Herdenimmunitätswahn (über 7 Impfungen pro Bürger bestellt) als autoritäre Politik.

Ausblick

Als Antipoden oder Reaktionen auf Hyperliberalismus haben die Autoren Kolja Zydatiss und Mark Feldon auch als Szenarien drei Phänomene untersucht, alle autoritär und rechts:

  1. den Sozialkonservatismus mit konservativen Forderungen beispielsweise zur Migration und Integration, gepaart mit linker Wirtschaftspolitik und ausgebautem Sozialstaat, die von der sozialdemokratischen Regierung in Dänemark und der Pis-Regierung in Polen praktiziert worden seien und von der BSW in Deutschland vertreten werde.
  2. das Modell autoritärer Stadtstaat mit dem Musterbeispiel Singapur, aber auch libertäre Freistädte mit Bürgern als Kunden und Unternehmen mit staatlichen Dienstleistungen, die politiklos sein sollen.
  3. Neofaschismus: das russische System.

In der Buchvorstellung sprach Kolja Zydatiss eine weitere Reaktion an, die Revolte wie sie mit den Gelbwesten als spontane Revolte, den Bauernprotesten gerade auch in den Niederlanden ausbrachen, sowie eine Haltung, die Resignation, bei der Cancel Culture und Dissidenten-Haltung (politische Themen nur privat und im Flüsterton) mit innerer Emigration einhergingen.

Fragen

Fragen können inspirieren. Daher möchte ich einige interessante Aspekte der Diskussion in Frageform erwähnen:

  1. Handelt es sich beim Interregnum um ein dialektisches Negieren oder Abschaffen (Untergang) der liberalen Demokratie?
  2. Welche Rolle kommt den herrschenden Machtstrukturen zu?
  3. Leben wir in einer zunehmend durch Kasten und Gruppenidentitäten gekennzeichneten Welt, in der übergreifende Politik nicht mehr funktionieren kann?
  4. Können wir eine lineare Entwicklung zum Autoritarismus erkennen und inwiefern ist eine moralische Substanzerneuerung möglich, bereits beobachtbar?
  5. Ist Demokratie Selbstzweck oder vielmehr ein Mittel zur Beförderung der Freiheit?
  6. Ist im Fürsorgeregime der Selling Point die Abkehr von sogenannten konservativen Werten, von Sekundärtugenden und von der Selbstbeschränkung wie parteipolitisch bei Linkspartei und Grünen sichtbar? Und ist das Befreiung?

Abschließende Bemerkungen

Das Interregnum des Hypermoralismus trage eine schief sitzende Maske und gebe den Blick auf das Eigentliche, das Autoritäre frei, hieß es in der Diskussion. Der autoritäre Fürsorgestaat sei mit seiner vermeintlichen gleichzeitigen Entgrenzung des Individuums voller innerer Widersprüche. Dazu gehört: Umsorge mich und lass mich in Ruhe!

Ziel des Buches ist es, die in den USA intensiv geführte Postliberalismus-Diskussion nach Deutschland zu bringen und der Versuch, für einen moralischen Substanzaufbau einzutreten. Es gehe um mehr als die bisherigen Anti-Bücher liefern. Die Antwort auf die Frage, welche Werte verteidigenswert sind, ist für die Autoren eindeutig: die idealtypische Demokratie mit ihren Freiheiten und dem mündigen Bürger im Mittelpunkt. Erforderlich sei eine kulturelle Basis, die mit der Übernahme von Pflichten und einer Selbstzivilisierung einhergehe.

Ich finde Interregnum als Titel gut gewählt, kommen darin Herrschaftsaspekt und Zwischenzeit zugleich vor. Vielleicht ist eine Antwort auch über 100 Jahre nach der Suche von Rudolf Eucken wegweisend, der in seiner Betrachtung der Lebensanschauungen der großen Denker eine neue Leitidee forderte, die das Innerliche und das Äußerliche mit einander verknüpft. Mit den Autoren teile ich die Beobachtung, dass Probleme von links verursacht und durch Reaktionen von rechts verschleppt und verschärft werden. Das Gegenteil wäre Liberalismus. Es spricht für sich, dass die Bürger „machen lassen“ als zu gefährlich gilt.