Verfall der Demokratie: Archetypen als Denkanstoß
Literatur über den Niedergang des Westens gibt es zuhauf. Ein kluges Beispiel ist der Selbstmord des Westens. Es gibt eine zeitlose und in Krisen sprießende Faszination am Scheitern – seit der Antike.
Im Christentum und in der Moderne überwiegen lineare Auffassungen, entweder als Heilsgeschichte bis zum Paradies oder als einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge mit der Demokratie als Dauerzustand. In der Antike gab es zyklische Vorstellungen, zu denen der Verfassungskreislauf – anakyklosis – des Polybios (um 200 v. Chr. – um 120 v. Chr.) gehört.
Polybios hat durch eine Analyse von Fallbeispielen und führenden Theoretikern eine Theorie entwickelt, die ein Muster des Verfalls und Wechsels von Staatsformen beinhaltet. Mit diesem Muster, das ein politisches Entwicklungsmodell darstellt, konnte Polybios Prognosen machen über Karthago, Sparta und die Römische Republik.
Es wäre ein Fehler das Modell als naturgesetzlichen Verlauf anzusehen. Jedes Modell fußt auf Bedingungen und Annahmen, die nicht zuletzt zeithistorisch beeinflusst sind. Es gibt keinen Schlüssel zur Erkenntnis eines Weltgeistes, der die Wahrheit kennt. Indes kann es Denkanstöße liefern. Was wäre, wenn …
Ein erster Schritt könnte beispielsweise die These sein: Was wäre, wenn die Kritiker recht hätten und etwas nach der liberalen Demokratie kommt. Ausgangspunkt sollte eine Analyse der herrschenden Verhältnisse sein und der wesentlichen Prozesse sowie von Schlüsselpersonen(gruppen), die für Kontinuität oder aber Wandel stehen. Kipppunkte ließen sich identifizieren. Für überprüfbare Prognosen könnte Polybios einen Beitrag leisten, ohne sein Modell eins zu eins zu übernehmen.
Ansatzpunkt wäre sein Muster des Verfalls von Verfassungen im Zeitverlauf, u.a. durch Überheblichkeit und starkes Wachstum der herrschenden Elite. Jeder dieser Annahmen und auch die nachfolgenden müssten überprüft werden.
- Der herrschende Klasse nimmt an Zahl und Einfluss zu.
- Ihr wesentliches Ziel ist selbstbezogen, ihre Lösungsfähigkeit drängender Probleme unzureichend. Lediglich Regierungen und die Parteifarben wechseln.
- Die Problemverschleppungen halten an, der Problemdruck steigt, die Unzufriedenheit wächst.
- Ab hier gibt es verschiedene Musterverläufe. In Anlehnung an Polybios würde die Demokratie unter Druck geraten. Die einzige Alternative erscheint für eine zunehmende Wählerzahl, eine Alternative stark zu machen, die politischen Veränderungsdruck ausüben soll.
- Da die etablierten Parteien keine Koalition eingehen wollen, kommt es auf Länder- und Bundesebene vermehrt zu Minderheitsregierungen, die instabil sind und die Probleme ebenfalls nicht lösen können. Es entsteht die antike Situation der „Krise ohne Alternative“ (Christian Meier).
- Schließlich wird die Demokratie selbst infrage gestellt – durch die Alternative selbst oder durch Forderungen der Bürger oder durch Initiative innerhalb der Elite von wenigen, die sich über bestehende Beschränken hinwegsetzen.
- Probleme werden autoritär gelöst, der komplizierte Gesetzesweg wird umgangen, soll später nachgereicht werden oder erfolgt pseudo-legal.
- Statt einer Ochlokratie, wie von Polybios angenommen, bildet sich eine Oligarchie heraus.
Entscheidend ist nicht der hier skizzierte Narrativ, sondern das Denken außerhalb der Box und vor allem die Analyse der Systemzusammenhänge, um das Modell zu überprüfen und die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens zu bestimmen. Zugleich lassen sich Indikatoren einer Entwicklung in die eine oder andere Richtung bestimmen.
Dramatisch hingegen schreibt Polybios (Geschichte VI, 3 ff, 1. Bd, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, Zürich 1961):
„Nachdem sie so in ihrer unsinnigen Gier nach Ehre und Ansehen das Volk für Bestechungsgelder empfänglich gemacht und seine Habsucht geweckt haben, kommt es wiederum zum Sturz der Demokratie, und diese verwandelt sich in eine Herrschaft der rohen Gewalt. Denn die Menge, die sich daran gewöhnt hat, sich von fremdem Gut zu nähren und nur auf Kosten anderer meint leben zu können, braucht nur einen Führer mit kühnen, hochfliegenden Plänen, der aber wegen seiner Armut von den Ehrenstellen im Staat ausgeschlossen ist, zu finden, und schon ist die Herrschaft der brutalen Gewalt da. Das Volk rottet sich zur Vertreibung und zur Ermordung seiner Gegner und zur Neuverteilung des Landes zusammen, so lange, bis die vertierte Masse wieder einen Herrn, einen Alleinherrscher gefunden hat.“