Wahlen – mehr als Legitimationstheater?
Wahlen – mehr als Legitimationstheater?

Wahlen – mehr als Legitimationstheater?

Wahlen – mehr als Legitimationstheater?

Einige kritisch-konstruktive Fragen zu Wahlen

In Berlin wird heute gewählt. Die BZ hat als Thema des Monats „Kampf ums Rote Rathaus“ gewählt. Der Landeswahlleiter blicke zuversichtlich auf den Wahltag. Ein anderer Beitrag enthält die flotte Formulierung „Unsere Stimme für Berlin!“. Und selbstverständlich, das möchte ich hinzufügen, spielen die Personen eine herausragende Rolle: „Hier werden Giffey, Jarasch und Wegner persönlich“. Ich komme darauf zurück.

Die Leitfrage, die ich mir stelle, lautet: Sind Wahlen mehr als Legitimationstheater? Was meine ich damit? Wahlen dienen wesentlich der Legitimation der gewählten Politiker, die von den Wählern als Repräsentanten beauftragt werden. Repräsentieren die Gewählten indes die Wähler und deren Präferenzen? Besitzen Wahlen vor allem einen symbolischen, mehr noch unterhaltenden Wert und gleichen sie damit eher einer Theateraufführung als etwa der Herstellung konkreter Produkte in einem Unternehmen? Und schließlich ist die Legitimation selbst vielleicht ein Theater, eine Aufführung und Inszenierung?

Dir vorherrschende Auffassung dürfte wenig zu diesen Fragen passen. Der Wähler gilt als Souverän. Diese Idee wurde im Grundgesetz als Artikel 20 aufgenommen. Absatz 2 lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Es folgt der Hinweis auf Wahlen an erster Stelle, ergänzt um die drei institutionellen Gewalten, die auch eine Einschränkung enthalten: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Organe sind nicht der Souverän.

Als wesentliche Errungenschaft gelten Wahlen auch bei der Überwindung der Alleinherrschaft einer Elite, hier der britischen Krone: „No taxation without representation!“ Ist auch der Umkehrschluss zulässig – als Repräsentant darf man besteuern und herrschen? Und wenn ja, wen, in welchem Ausmaß – noch als Repräsentant?

Wer auf autoritäre Regime blickt, in denen es keine Wahlen gibt oder lediglich vom Ergebnis her bedeutungslose Urnengänge, der könnte das Argument anführen, Wahlen seien eine Errungenschaft, gleichsam eine Bürgerpflicht, als Ausdruck des Bürgerwillens, politischer Mitbestimmung und politischer Freiheit. Wie ist der Hinweis von Bürgerrechtlern der DDR zu bewerten, dass gerade die Freiheit nicht zu wählen eine politische Errungenschaft ist, die freiheitliche von unfreiheitlichen Herrschaftssystemen unterscheidet? Ein Recht ist keine Pflicht.

Bevor ich einige wahlkritische Perspektiven anbiete möchte ich noch auf eine aktuelle, etwas schräge perspektivische Bedeutung des Themas Wahlen hinweisen. Gemeint sind als überflüssig erachtete Wahlen angesichts Künstlicher Intelligenz und politischem Nudging, die zu besseren Ergebnissen führen würden (Stichwort „Post Voting Society“, zur Einordnung siehe u.a. dpa).

„Politics is a spectacle, reported by the media and witnesses by parts of the public.” urteilte der amerikanische Politikwissenschaftler Murray Edelman in seinem Klassiker “The Symbolic Uses of Politics” 1985 (Nachwort, S. 195). Edelman veränderte die noch heute in der Öffentlichkeit dominierende Perspektive der politischen Institutionen mit ihrem staatstragenden Charakter, indem er die politische Kommunikation in den Vordergrund rückte. Demnach haben Wahlen eine symbolische Bedeutung, stiftet Politik Bedeutung. Zugleich richten sich intensive Bemühungen darauf, die Deutungshoheit zu erlangen. Der deutsche Philosoph Wolfgang Kersting wies auf das Problem der „wohlfahrtsstaatlichen Wählerbewirtschaftung“ hin („Theorien der sozialen Gerechtigkeit“). Das ist flapsig formuliert der Stimmenkauf mit dem Geld fremder Leute oder mit dem Geld der Wähler selbst.

Einige ausgewählte politikökonomische Erkenntnisse, die Anlass zum Nachdenken geben:

  1. Politiker verfolgten noch nie das Gemeinwohl, das den Politikern weder bekannt sein kann noch überhaupt existiert, sondern primär ihr eigenes Wohl. Um ihre Ziele u verfolgen, müssen sie Wähler dazu bringen, ihnen ihre Stimme zu geben, mit welchen Mitteln auch immer. Die Public Choice Schule hat das seit den 1950er Jahren aufgezeigt. Winston Churchill sprach bekanntlich davon, dass nie so viel gelogen werde wie nach der Jagd und vor Wahlen.
  2. Die Wähler geben ihre Stimme ab, sind aber nie der Souverän, weil ihre Stellvertreter ihre eigenen Interessen vertreten und umgekehrt in einem gleichsam naturgegebenen Prozess die Wähler zur Gefolgschaft anhalten. Das hat der Soziologe Wolfgang Sofsky gut lesbar dargestellt. Hinzu kommt, dass es keinen unmittelbaren Feedback-Mechanismus für politische Entscheidungen gibt. Wahlen alle vier Jahre sind kein direktes Feedback.
  3. Die Regierung repräsentiert mit ihrer Stimmenmehrheit fast ausnahmslos eine Minderheit der Bevölkerung– sowohl der Wähler als auch der Gesamtbevölkerung. Darauf wird seit Jahren regelmäßig nach Wahlen hingewiesen und die Tatsache lässt sich leicht selbst errechnen.
  4. Die Wähler entscheiden nicht rational und damit sachgerecht, sondern emotional. Das wird von der Politik gezielt bedient und wird anschaulich sichtbar durch die Fixierung auf als mehr oder minder sympathisch betrachtete Politiker. Die in Mode gekommenen Politikerrankings sind ein Fingerzeig. Bryan Caplan hat mit „Myth of the rational voter“ das maßgebliche wissenschaftliche Buch verfasst.
  5. Mit Anthoy Downs ist Wählen irrational („An economic theory of democracy”). Die Abgabe der einzelnen Stimme eines jeden Wählers ist für sich genommen irrelevant. Sie beeinflusst das Wahlergebnis nicht und könnte reihum wechselnd an irgendeine Partei gegeben werden, ohne Auswirkungen zu haben. Die Problematik reicht noch weiter und wird systemisch: Haben sie schon einmal eine politische Veränderung bewirkt, weil sie eine bessere Lösung gefunden haben? Sie müssen dazu erst eine Mehrheit gewinnen – Politiker oder Wähler.
  6. Der Parteienwettbewerb kann einem Mimikry-Prozess ähneln (Duncan Black „The theory of committees and elections“). Infolgedessen gibt es kaum substanzielle Unterschiede zwischen den Parteien und auch nicht in ihrem Handeln an der Regierung. Eine solche farblich unterschiedliche, in der Substanz eher einem Block ähnelnde Parteiengruppierung drängt zudem Abweichler aus dem System.

Unter konsequenten Liberalen gibt es eine produktive Diskussion, international, ob man wählen gehen sollte. Zu den zuvor genannten Problemen kommt hinzu, dass konsequente Liberale parteipolitisch heimatlos sind.

Wahlen lassen sich etwas Positives abgewinnen, gerade weil sie Bedeutung und Zusammenhang stiften, weil sie für Legitimität und Stabilität sorgen können. Das gilt in Demokratien wie in Autokratien. Wahlen können für einen friedlichen Wechsel der Regierung sorgen, wenn diese in der Sache tatsächlich anders handelt. Zudem sind Wahlen und daraus folgend Mehrheitsentscheidungen lediglich eine pragmatische Alternative zur Einstimmigkeit und den damit verbundenen Problemen.

Die beiden wesentlichen Alternativen zu repräsentativen Abstimmungen sind entweder Entscheidungen einer Elite ohne formale Bürgerbeteiligung oder direkte Bürgerentscheidungen.

Verbesserungen des derzeitigen Wahlsystems sind möglich, das sich zum Beispiel mit Losverfahren zur Durchbrechung von Parteikarrieren verbinden lässt (Demokratie – reformbedürftig). Sowohl Repräsentation als auch Bürgerentscheidungen, die beide anfällig sein können für Populismus respektive Propaganda, sprechen für eine Verlagerung der politischen Entscheidungen auf die unterste Ebene. Das ist zugleich ein Plädoyer für die Überschaubarkeit von Demokratie. So ist sie in der Antike in den Poleis entstanden, als Gemeinschaft von Bürgern, die sich kannten und dann ihre Wahlentscheidungen trafen. Zugleich sollte Demokratie weit mehr sein als die Stimmabgabe.