Wohlfahrtsverluste durch den Wohlfahrtsstaat
Wohlfahrtsverluste durch den Wohlfahrtsstaat

Wohlfahrtsverluste durch den Wohlfahrtsstaat

Wohlfahrtsverluste durch den Wohlfahrtsstaat

Sozial- und Wohlfahrtsstaat gelten als Errungenschaft. Niemand soll aus materiellen Gründen von der Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ausgeschlossen sein, jedermann soll ein menschenwürdiges Leben führen können. Armut und Elend wie zur Zeit der Industrialisierung als noch Manchesterkapitalisten Arbeiter ausbeuteten und während der Weltwirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik sind Mahnung und Auftrag an den Staat zugleich, dies zu verhindern. Soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit bilden die beiden unhinterfragbaren Topoi unserer Zeit. Der Sozialstaat ist die Problemlösung.

In Deutschland zählt das Sozialstaatsprinzip zur Grundlage der Verfassungsordnung genauso wie das Rechtsstaats-, Bundesstaats- und Demokratieprinzip. Im Grundgesetz Art. 20 Abs. 1 heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ In Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG ist zudem von einer verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern die Rede, die dem „sozialen Rechtsstaat“ entsprechen muss. Das Sozialstaatsprinzip ist als Staatsziel im Grundgesetz verankert und genießt Ewigkeitsgarantie. Es verpflichtet Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln und den Staat für einen sozialen Ausgleich zu sorgen.

Der Unterschied zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist unscharf. Sozialstaat kann stärker beschränkt auf den verfassungsmäßigen Auftrag und zielgerichtete sozialstaatliche Aufgaben betrachtet werden. Dies wird jedoch dem heutigen Versorgungsstaat nicht gerecht mit einem politischen Anspruch in jedem Lebensbereich segensreich zu wirken. Daher erscheint der Begriff Wohlfahrtsstaat treffender. Unter diesen Begriff fallen nicht nur die Gesamtheit aller staatlichen Einrichtungen, Steuerungs- und Lenkungsmaßnamen, sondern auch die Werte, Ideologien und Politiken, die weit über das Ziel hinausgehen, Lebensrisiken und gesellschaftliche Folgewirkungen abzufedern.

Der Wohlfahrtsstaat wirft eine Reihe von Problemen auf, von denen zwei exemplarisch herausgegriffen seien:

  1. Das Ausmaß des Wohlfahrtsstaates ist nicht beschränkt. Das gilt praktisch weder verfassungsmäßig noch volkswirtschaftlich. Die stetig wachsenden sozialen Staatsausgaben können das illustrieren, sie sind von 1960: 32 Milliarden Euro auf 2010: 791 Milliarden Euro und 2020 auf über 1,1 Billionen Euro gestiegen – bei gleichzeitig drastisch gestiegenem Wohlstand wie sich jeder bei einem Vergleich der Lebensverhältnisse im Jahr 2020 mit dem Jahr 1950, geschweigen denn 1880 ausmalen kann. Inzwischen wird fast jeder dritte Euro des BIP pro Kopf für Soziales ausgegeben (Sozialleistungsquote). Zugleich bilden regelmäßig Armutsberichte Anlass eine verbreitete massenhafte Armut anzuprangern.
  2. Grundlagen und Praxis des Wohlfahrtsstaates beruhen auf einer Reihe von Mythen und ungeklärten Fragen: So waren die Manchesterkapitalisten Kämpfer für die Armen gegen die herrschende Aristokratie. In der Weimarer Republik gab es bereits einen für damalige Verhältnisse umfangreichen Sozialstaat. Kann der Staat Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfall sowie deren Folgen bestmöglich absichern? Die Folgen wohlfahrtstaatlicher Praktiken werden zwar immer wieder kritisiert, darunter Verschwendung, Unmündigkeit der Transferempfänger, die Verwandlung des Bürgers in einen unmündigen Verbraucher (Johann Braun: Bürger und Verbraucher. Über den Wandel des Menschenbildes im Bereich des Politischen), aber kaum zum Anlass für konstruktive Diskussionen genommen.

Ursprung und Wesen des Wohlfahrtsstaates: Herrschaft

Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder wie soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ Die berühmte Feststellung Bismarcks charakterisiert noch heute treffend das Wesen des Wohlfahrtsstaates. Der Wohlfahrtsstaat ist zunächst und wesentlich ein Herrschaftsmodell. Politiker, Bürokraten und Vertreter anderer organisierter Sonderinteressen, darunter Funktionäre von Gewerkschaften und anderen Wirtschaftsverbänden, Lobbyisten und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen sowie gut vernetzte Vorstände von Großunternehmen nutzen die Funktionsmechanismen für ihre Ziele und die ihrer Organisationen – vielfach auf Kosten anderer. Längst hat sich ein politisch-ökonomisch-sozialer Komplex formiert, inzwischen mit ökologistischen Zügen.

Ablehnung

Die Gründerväter und Patenonkel der Sozialen Marktwirtschaft hatten davor gewarnt. Von Erhard bis Rüstow lehnten sie den Wohlfahrtsstaat ausdrücklich ab – als unsozial (Pervertierung der Marktwirtschaft).

Ludwig Erhard urteilte 1960 in der Frankfurter Allgemein Zeitung unter dem Titel „Die wahren Feinde des deutschen Volkes“ etwa: „So aber schliddern wir zusehends und zunehmend in den perfekten Wohlfahrtsstaat, der jedes wahre Menschentum unterhöhlt und uns in eine gesellschaftliche Ordnung hineintreibt, die sich nicht mehr grundsätzlich, sondern nur noch graduell von totalitären Systemen unterscheidet.

Für Wilhelm Röpke war der Wohlfahrtsstaat eine „komfortable Stallfütterung“, ein „Instrument der sozialen Revolution“, der die Menschen zu Haustieren entmündigt. In seinem wohl bekanntesten Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ urteilte er: „Man spricht noch die Sprache des alten Fürsorgestaates und man denkt noch in seinen Kategorien, aber das alles wird mehr und mehr zu einer Kulisse, die den neuen Feldzug auf alles deckt, was das Durchschnittsniveau an Einkommen, Vermögen und Leistung zu überragen wagt. … Es ist schlechterdings kein Ende dieser Entwicklung abzusehen, solange nicht die perverse Sozialphilosophie, auf der der moderne Wohlfahrtsstaat beruht, als einer der großen Irrtümer unserer Zeit erkannt und verworfen sein wird.

Auch Franz Böhm warnte – zeitlos aktuell – vor einer „Refeudalisierung der Gesellschaft“ durch den Druck privilegierter Sonderinteressen, welche mit einem Autonomieverlust der Politiker einhergehe. Dementsprechend sterbe die Freiheit sanft und sukzessive im Namen umverteilender Gerechtigkeit.

Alexander Rüstow, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und „linker“ Gründervater der „Sozialen Marktwirtschaft“ warnte vor dem totalen Wohlfahrtsstaat: „Wenn man bei wohlfahrtsstaatlicher Organisation zu sagen pflegt, dass „der Staat“ es ist, der die Kosten trägt, so muss man sich doch klar machen, dass der Staat aus Eigentum ja überhaupt keine Mittel zur Verfügung hat, vielmehr alles, was er ausgibt, vorher einnehmen muss. Es ist insofern nichts weiter als ein ungeheures, höchst kompliziertes Röhrensystem, teils aus Saugröhren, teils aus Druckröhren bestehend. Der Wohlfahrtsstaat legt Wert darauf, dass er zu jedem Staatsbürger ein Druckrohr leitet, durch das er ihm seine Wohlfahrtsleistungen zupumpt. Zugleich aber hat er in der Geldtasche jedes Staatsbürgers ein Saugrohr verschiedenen Querschnitts, und die Funktion des Staates besteht nun darin, das ganze ungeheure Röhrensystem in Tätigkeit zu setzen, mit unheimlichen Maschinengeräuschen und beträchtlichen Energie- und Materialverlusten.“

Wohlfahrtsstaat zeigt Wirkung

Heute gibt es zunehmende Anzeichen, die auf eine Korrelation zwischen Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrt schadenden, unsozialen Entwicklungen hinweisen. Als ein wissenschaftlicher Ausgangspunkt kann die umfangreiche Untersuchung von Vito Tanzi dienen Government versus Markets, dem langjährigen Direktor der Abteilung für Finanzangelegenheiten beim Internationalen Währungsfonds (IMF). Für die USA plädiert Edgar K. Browning in Stealing from Each Other. How the Welfare State Robs Americans of Money and Spirit nach einem intensiven, jahrelangen Studium des amerikanischen Wohlfahrtsstaates schweren Herzens gar für dessen vollständige Abschaffung. Bereits 1969 hatte Henry Hazlitt in Man vs. The Welfare State aufgezeigt, welch zerstörerische Folgen wohlfahrtsstaatliche Politik nach sich zieht. Ludwig Erhard urteilte: „Nichts ist .. in der Regel unsozialer als der sogenannte ‘Wohlfahrtsstaat’, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken läßt.“

Anekdotische persönliche Beobachtungen in Deutschland, Frankreich und den USA bestätigen Erhards Einschätzung. Nachlassendes Arbeitsengagement, Teilzeitarbeit, die um private Interessen herumgestrickt wird und etwa in Krankenhäusern zu schwerlich bewältigbarer Koordination sowie der Forderung nach einer Männerquote im Studium geführt hat, gehören dazu. Eine nennenswerte Zahl junger Menschen legt keinen Wert mehr auf die Erarbeitung eines besseren Lebens. Vielleicht sind diese Beobachtungen nur Bestätigungen einer Voreingenommenheit. Für die USA hat Tyler Cowen indes den nachlassenden ökonomischen Drive in Verbindung mit sinkender Leistungsbereitschaft aufgezeigt (The Complacent Class). Tatsache ist, dass die Produktivitätsentwicklung Besorgnis erregend ist, wie Alexander Horn belegt (und im Zusammenhang mit den politisch geschaffenen Zombieunternehmen bei gleichzeitigem Fachkräftemangel steht). Welche Anreize hat die untere Mittelschicht zu arbeiten, wenn die asoziale Geldpolitik sie in Richtung Prekariat drückt und gleichzeitig der Abstand zum faktischen Grundeinkommen weiter sinkt?

Den Ausweg aus der Wohlfahrtsstaatmisere hat Wilhelm Röpke in einer Vision und fast schon einer Strategie verdeutlicht. Dabei geht es nicht um die Abschaffung des Sozialstaates. Es geht vielmehr um eine Abkehr von einer Praxis, die zugespitzt einer Manipulation von Wählern mit vielen Möhren als Stimmvieh gleicht. Zurück zu mündigen Bürgern: „Es muss alles getan werden, um den Schwerpunkt der Lebensverantwortung wieder zu verlegen vom staatlichen Zentrum an die Stelle, die gesundes Denken und geschichtliche Erfahrung als die natürliche Seite verlangt, hin zum einzelnen inmitten seiner Familie, zu den dezentralisierten, staatsfreien Organisationen, zu den breiten Schichten der Völker. An dieser Aufgabe … entscheidet sich das Schicksal unserer Kultur, deren Wesen Freiheit und Persönlichkeit sind.