Der Reichswirtschaftsrat und das Problem der Politikberatung
Der Reichswirtschaftsrat und das Problem der Politikberatung

Der Reichswirtschaftsrat und das Problem der Politikberatung

Der Reichswirtschaftsrat und das Problem der Politikberatung

Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat der Weimarer Republik bewegte sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Ideen und Vorhaben: unmittelbares Reichsorgan zur Einwirkung auf Gesetzgebung und Verwaltung, unpolitischer Beirat, Gutachterkörperschaft, Repräsentativorgan der Wirtschaft, Krönung gemeinwirtschaftlicher Wirtschaftsorganisation. Zugleich deutet sich an, warum die Institution Schwierigkeiten hatte, aus einem Stadium der Vorläufigkeit hinauszugelangen.

Am 4. Mai 1920 auf dem Verordnungsweg errichtet, entfaltete der Vorläufige Reichswirtschaftsrat mit Sitz in Berlin eine umfangreiche Tätigkeit, die sich im wesentlichen auf zwei Felder erstreckte: hin- und herwogende Bemühungen um eine endgültige Verankerung in der Weimarer Reichsverfassung einerseits und facettenreiche Erörterungen von wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen andererseits. Erörtert wurde vor allem in einer Vielzahl von Aus- und Unterausschüssen, beispielsweise für Außenhandel, Kohle, Betriebsräte, Wasserwirtschaft und Reparationen. In den drei Jahren bis Juni 1923 fanden zudem 58 Plenumssitzungen statt, anschließend nur noch Ausschusstätigkeiten. Die Vollversammlung mit 326 Mitgliedern erwies sich für eine gutachterliche Tätigkeit als ungeeignet. Die Themenfülle deckte nahezu alle sozioökonomischen Themen ab und reichte von der Arbeitslosenversicherung über Fragen der Gewinn- und Verlustrechnung, der Mietsteuer und der Lohnstatistik bis zur Autonomie der Reichsbank. Im Vorstand waren zeitgenössische Persönlichkeiten wie von Braun, von Siemens, Legien und Cohen tätig. Die Mitglieder stammten aus allen wichtigen Branchen, hinzu kamen Beamte, Vertreter der Länder und von der Reichsregierung ernannte Personen. Zahlenmäßig dominierten Mitglieder der Land- und Fortwirtschaft sowie der Industrie. Vorschlagsrecht hatten zahlreiche Körperschaften, Verbände und Vereinigungen, darunter auch der Deutsche Städtetag.

Frühzeitig zeichneten sich Fraktionsbildungen und Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ab. Das permanente Gerangel um eine optimale Interessenvertretung spiegelte sich in parlamentarischen Kontroversen um die adäquate Sitzverteilung wider und ließ eine here Gründungsidee in den Hintergrund treten: eine Art Wirtschaftsparlament könne das Gesamtinteresse der Wirtschaft repräsentieren und eine gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsorganisation krönen.

Dem Vorläufigen Reichswirtschaftsrat fehlte ein passender Platz im institutionellen Gefüge der Weimarer Republik. Das lag nicht nur an der Konkurrenz zu Ressorts, Räten und wirtschaftlichen Interessenvertretungen. Kompetenzüberschneidungen bestanden etwa mit dem Reichswirtschaftsministerium, das die Federführung über das unmittelbare Reichsorgan innehatte. Umstritten blieb bis zuletzt auch die Frage, ob ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben etabliert werden sollte. Trotz großer Mehrheit scheiterte die verfassungsmäßige Etablierung 1930 nach mehrjähriger parlamentarischer Debatte mangels Zweidrittelmehrheit an Differenzen über die Zusammensetzung des Gremiums.

Der Mitarbeiter des Stadtarchivs Krefeld Joachim Lilla* hat mit einem vorbildlich edierten Band eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt, die als gelungenes Fundament einer weiteren Erschließung dienen kann. Anknüpfungspunkte finden sich reichlich, darunter inhaltliche Debatten oder politikökonomische Aspekte, die die Mitglieder betreffen. Das Handbuch gliedert sich in eine umfangreiche Einleitung, die sich mit der Entstehung und Arbeit des vorläufigen Reichswirtschaftsrates befasst. 160 Seiten Quellen- und Literaturangaben sowie 270 Seiten biographische Dokumentation der 579 Mitglieder schließen sich an. Thematisiert werden auch Vorläufer wie der preußische Volkswirtschaftsrat (1880 bis 1884), der bereits die Schwierigkeiten wirtschaftskundiger Beratung und einer außerparlamentarischen Integration der Wirtschaft zeigt, und Nachläufer wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage und zwei europäische Pendants der Nachkriegszeit.

Zwischen allen Stühlen

Wer sich ein Bild von der Entstehung und Arbeit des Reichswirtschaftsrats (RWR) machen möchte, der kann zu Joachim Lilla greifen. Wer erfahren möchte, wie sich aus einem scheinbar abgearbeiteten, randständigen Thema beträchtliche Erkenntnisse ziehen lassen, der kann anschließend zur Habilitationsschrift von Franz Hederer** greifen. Interdisziplinarität, reflektierte theoretische Fundierung, Perspektivenvielfalt sind drei hilfreiche Aspekte, die zusammen mit weiteren Mitteln vom Historiker mit Schwerpunkt neuere deutsche und europäische Geschichte Franz Hederer erkenntnisreich eingesetzt wurden. Das Ergebnis, das in einem anspruchsvollen und schlüssig konzipierten, im Detail indes wiederholt nicht intuitiv verständlichen Vorgehen erzielt wurde, besitzt Bedeutung für die Weimarer Republik insgesamt und sogar darüber hinaus.

Hederers Erkenntnisinteresse besteht darin, den RWR „als typisches Phänomen ‚seiner Zeit‘ akzentuiert“ (S. 361) und den „institutionellen Wandel, die Ausformung eines spezifischen institutionellen Habitus sowie die Persistenz und gleichzeitige Fragilität seiner Rolle im politischen System ins Zentrum“ (S. 371) aufzuzeigen. Hederers Leitgedanke ist die „Neuvermessung der praktischen Rolle des Reichswirtschaftsrats in Wirtschaftsordnung und politischem System der Weimarer Republik“ (S. 24). Dabei werden die unterschiedlichen institutionellen Ausprägungen, die den RWR in Anspruch und Realität auszeichneten, in einem fruchtbaren Narrativ zusammengeführt. Dazu gehören der RWR der Verfassung, der vorläufige RWR als Herzstück einer neuen Wirtschaftsordnung, der endgültige RWR ins seiner (papiernen) Existenz, der vorläufige RWR in einer sich wandelnden politikökonomischen Umgebung, und der praktisch wirkende RWR. Der Leser nimmt teil an einer vielseitigen Betrachtung der Entstehung, Funktionsweise und politikökonomischen Interaktion einer Institution, die nie wurde, was sie werden sollte und war, was niemand beabsichtigt hatte – ein prekärer politischer Akteur, an dem Bürokratie, Parlament und Regierung im politischen Alltag nicht vorbeikamen, der aber selbst keine wirksame Politikberatung und -gestaltung betrieb. Ein sich wandelndes Dauerprovisorium in einer Transformationszeit.

Die Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: Die klassische Einleitung einschließlich einer Diskussion der „historiographischen Relevanz einer ‚bedeutungslosen‘ Institution“ und das resümierende Schlusskapitel zum RWR in der Wirtschaftsordnung und dem politischen System umschließen drei Kapitel. Das 2. Kapitel betrachtet den RWR im Lichte der Erwartungen und Ernüchterungen seiner Existenz hinsichtlich der Reichsverfassung, als Verordnung und Gesetzesentwurf und schließlich als Norm. Das 3. Kapitel analysiert den RWR als Institution im politischen System. Das umfangreichste 4. Kapitel betrachtet den Akteur RWR in der Wirtschaftspolitik anhand der sogenannten „großen Fragen“ der Weimarer Republik: Übergangswirtschaft und Sozialisierung, Reparationsregime und Erfüllungspolitik, Kartelle und Wirtschaftsordnung, Arbeitsbeschaffung und Konjunkturpolitik. In jedem Kapitel wird eine jeweils eigene untersuchungsleitende Perspektive genutzt. Das ist zuerst Entwicklung mit Kontinuität und Wandel sowie der Rolle des RWR und seinem modus operandi, dann die Akteursperspektive, ferner die institutionelle Perspektive, außerdem die des Agenda Settings und schließlich zusammengenommen die der Fragilität und Persistenz. Auf diese Weise treten Bewertungen wie die eines bedeutungslosen, nie formal etablierten und wenig politikwirksamen, letztlich illusionären Organs zurück und die vielschichtige, uneindeutige, offene Entwicklung und Gestalt des RWR treten deutlich hervor; außerdem wird dessen Rolle im politischen System der Weimarer Republik präzisiert. Mehr noch, manche politikökonomischen, systemischen Eigenheiten der Weimarer Republik werden im und durch den RWR deutlich. Franz Hederer nennt den RWR ein „charakteristisches Symptom der Weimarer Republik“ (S. 29). Das liegt methodisch daran, dass eben der Verzicht auf Eindeutig und Typologisierung das „merkwürdige Gebilde“ (S. 359) RWR in seinen Zuschreibungen und seiner institutionellen Entwicklung stets in seiner ambivalenten Existenz zeigte.

Die systemischen Ambivalenzen werden in jedem Kapitel deutlich. Als Institution zwischen den Stühlen war es möglich, den RWR zu schaffen, ihn am Leben zu erhalten und zugleich nie verfassungsgemäß zu etablieren. Seine Funktion als Entlastungs-, Versachlichungs- und Befriedungsinstitution, indes ohne ein korporatives Element zu sein (S. 58f.), öffnete Handlungsspielräume; zugleich blieb der RWR ein lediglich geduldeter Akteur. Das gilt vor allem nach der ersten Phase seiner Formierung (1919-23) und der zweiten, der Anpassung (1924-28), für die Infragestellung und eigenaktive Selbstbehauptung (1929-33/34). Das Scheitern nach der 1. Lesung des RWR-Gesetzes nach den Wahlen im Mai 1928 aufgrund der umstrittenen machtpolitischen Verhältnisse in der Zusammensetzung des Rates ist ein wichtiger Messpunkt. Das endgültige Scheitern kam erst nach der Machtübertragung. Zuvor hatte eine bemerkenswerte Selbstbehauptung des RWR in Form einer nicht vorgesehenen Eigeninitiative stattgefunden, der Bildung eines Ausschusses zur Konjunkturpolitik 1931/32. Der RWR schien doppelt aus der Zeit gefallen zu sein: Die ursprünglichen Erwartungen wurden von neuen fundamentalen Krisen überlagert und die Weimarer Republik an sich stand in der Zeit der Präsidialkabinette an der Schwelle ihrer Auflösung.

Zu den grundsätzlichen Erkenntnissen, die Franz Hederer nicht zuletzt mit politikwissenschaftlichen Modellen erarbeitet hat, gehört auch, dass im politischen System ein geeigneter Ort für den RWR genauso unklar blieb wie die Nutzung seines Wissens. Die politische Beratung ist heute ein politikwissenschaftlich und praktisch zunehmend untersuchter, prekärer Prozess, dokumentiert bereits im Routledge Handbook of Public Policy, 2013, auch wegen der „Kompetenz-Konkurrenz“ (S. 156), die eine Institution wie der RWR zu etablierten Institutionen wie dem Parlament, der Regierung und den Ressorts darstellt: „In der Tat besaß die Regierung gesteigertes Interesse daran, die Expertise des Reichswirtschaftsrats politisch zu nutzen; die eigenen Handlungsspielräume wollte man sich einem allzu unabhängigen Akteur aber nicht limitieren lassen.“ (S. 156)

Die Untersuchung ist nicht immer einfach zu verstehen. Das liegt am Wechsel zwischen der konzeptionell-theoretischen und der historisch-empirischen Ebene, an zahlreichen Konzepten und Modellen aus unterschiedlichen Disziplinen, die zuweilen etwas unvermittelt verwendet werden, ferner an einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Forschung und schließlich einer immer wieder abstrakten, theoretisch geleiteten Entwicklung der gleichsam vorausgesetzten facettenreichen Fakten der RWR-Geschichte. Erwähnt seien zudem viele wenig gängige Formulierungen, exemplarisch „hidden faces of institutional change“ (S. 121), „topische Abgrenzung“ (S. 204), „institutionellen drift und „shifting circumstance“ (S. 304) oder einfacher „Odem der Vorläufigkeit“ (S. 251). All das wird zu einer in sich konsistenten Analysepraxis verwickelt, die der Leser zusätzlich zur wiederholt erst zu entschlüsselnden Theorie- und Modellanwendung verstehen muss. Die Monographie ähnelt letztlich ein wenig dem Untersuchungsgegenstand.

Ein Lohn ist ein über Weimar hinaus reichender Einblick in Eigenheiten praktischer Politik, in machtpolitische Praktiken von Parteien, Parlamenten und staatlicher Bürokratie. Es entsteht ein archetypisch anmutendes Bild von organisierter Politik, die nicht allein durch sachliche Notwendigkeiten und Gemeinwohlorientierung bestimmt war und ist. Wirtschaftsgeschichte ist und bleibt ein wertvoller Lehrmeister.

Michael von Prollius

* Joachim Lilla: Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat 1920 bis 1933/34. Zusammensetzung – Dokumentation – Biographien. Unter Einschluss des Wirtschaftsbeirats des Reichspräsidenten 1931 und des Generalrats der Wirtschaft 1933 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 17). Droste Verlag, Düsseldorf 2012, 540 S., 98,00 €.
Besprochen von Michael von Prollius in VSWG 101 (2014), 229f.

** Franz Hederer: Politik der Ökonomie. Der Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Republik, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2024, 415 S., 54,00 €.
Besprechung erscheint in VSWG.