Corona-Analysen für eine offene Gesellschaft
„Denken ohne Geländer“. Das fällt mir bei der klugen, perspektivenreichen Betrachtung der wissenschaftlichen Corona-Analyse von Dagmar Schulze Heuling ein. Ähnlich wie bei einer berühmten politischen Denkerin, ist die Eigenständigkeit der Gedankenführung prägnant.
„Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen…“ heißt es im vorangestellten Zitat von Rudolf Virchow. Das tut die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie der Helmut Schmidt Universität, Hamburg, mit einer perspektivenreichen Betrachtung des Lockdowns.
Der Lockdown stellt das Herzstück der Corona-Politik dar, in Deutschland und in der Welt. Wenige Länder wichen davon ab und können dann eine bessere Bilanz vorweisen. Darin geht es jedoch in der lesenswerten Habilitationsschrift nicht, sondern um ein allgemeinverständliches, profundes Bemühen, „die Qualität der Auseinandersetzungen über den Lockdown zu verbessern.“ (18) Eine Demokratie lebt vom Austausch über Ideen, Überzeugungen und Wissen, zugleich von Kritik und Kommentaren, letztlich Debatten. Die wurden im Zuge der Corona-Politik stark eingeschränkt, ohne dass bisher darüber hinreichend debattiert und daraus gelernt wurde.
Dagmar Schulze Heuling akzeptiert den Absolutheitsanspruch nicht und liefert einen vielschichtigen Beitrag zu ihrem Ziel, „zu einer aufgeklärten Diskussion und einem multiperspektivischen, sachlicheren und adäquateren Verständnis des Phänomens Lockdown beizutragen.“ (29) Sie bringt dazu klassische staatswissenschaftliche Disziplinen zusammen: politische, juristische und philosophische Überlegungen, angereichert durch medizingeschichtliche, ethische, psychologische und erkenntnistheoretische Betrachtungen.
Das Buch besteht aus drei Teilen. Teil 1 behandelt Infektionsschutz, darunter die Entdeckung der Keimtheorie, und das angstauslösende Potential von Krankheiten, eine überaus hilfreiche Begriffsexploration, darunter das unplanmäßige Einsperren von Häftlingen, sowie aktuelle Bestimmungen zum Infektionsschutz, die die Grundlagen für die Untersuchung und Diskussion bilden. Ein bedenkenswerter Aspekt ist das wahrscheinliche Fortwirken einer säkularisierten Heilslehre in Form einer Null-Covid-Politik. Die Lockdown-Definition beinhaltet zwei Komponenten: Einschränkung der Bewegungsfreiheit und fast vollständiges Verbot physischer Nähe. (101)
Teil 2 betrachtet den Lockdown jeweils aus einer der Perspektiven Politik, Wissen, Recht. Behandelt wird, was eine Pandemie zu einem politischen Thema macht, welche Rolle der Katastrophenfilm „Outbreak“ vermutlich für die politische Praxis besaß und, dass Horrorbilder aus Italien als Schlüsselerfolg für eine letztlich kontraproduktive und nicht unrechtmäßige Politik waren. Für Klarheit sorgt das Kapitel über die kontraproduktive Zentralisierung von Macht und Wissen. Kognitive Verzerrungen und Machtpolitik werden als Gründe für Regierungshandeln und -entscheiden angeführt, die „allen logischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen über gutes Entscheiden widersprechen.“ (398) Den Lockdown sieht Dagmar Schulze Heuling als verfassungswidrig an.
Teil 3 befasst sich mit Rechtsdogmatik und -philosophie über Schutzpflichten und Abwägungen, mit Aspekten politischer Philosophie über Zweck und Befugnisse des Staates, schließlich mit der ethischen Unmöglichkeit einer Rechtfertigung des Lockdowns im Zuge einer Abwägung von Gesundheits- und Lebensschutz sowie Freiheitsrechten, wirtschaftlicher Betätigung und Wohlfahrtsstreben.
Die Überlegungen zeichnen sich durch große Eigenständigkeit, Klarheit in der Argumentation und einen dezidiert liberalen Standpunkt aus. Das selbstgesteckte Ziel, einen Ausgangspunkt für eine Diskussion zu bilden, wird vollumfänglich erreicht. Nachteilig für die angestrebte Debatte ist lediglich der Buchpreis, zumindest jenseits der Wissenschaft.
Dagmar Schulze Heuling: Der Lockdown. Politische, philosophische, rechtliche und ethische Aspekte, Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, 442 S., 99,00 Euro.