Der israelische Ministerpräsident Netanjahu kritisierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2018 das Münchener Abkommen (mit Blick auf die aktuelle Rolle Irans in Nah-/Mittelost). Vor 80 Jahren, am 29. September 1938, erfüllten das Vereinigte Königreich und Frankreich sowie Italien alle Forderungen Hitlers und standen die Annexion des Sudetengebiets in der Tschechoslowakei zu.
Wenige Monate später eroberte Hitler das ganze Land und binnen eines Jahres begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Robert Harris hat über die Konferenz einen spannenden Roman geschrieben.
Was ich bedebkenswert finde, klingt erst nach der Lektüre an, nämlich die vielfältigen Einflüsse und widerstreitenden Interessen, die im September 1938 wirkten:
– Hitler wollte (zunächst) die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei in das Deutsche Reich einverleiben und war bereit dafür Krieg zu führen. Eigentlich wollte er bereits im Herbst 1938 das ganze Land erobern. Das Münchener Abkommen erfüllte sämtlich seiner Forderungen. Gleichwohl war Hitler enttäuscht nicht Krieg führen zu können.
– Chamberlain hatte sich ihm entgegengestellt und konnte die Konferenz initiieren, um den Frieden zu wahren. In einem Zusatzabkommen, das in der Privatwohnung Hitlers unterzeichnet wurde, verpflichtet sich der Führer und Reichskanzler zur friedlichen Lösung von Konflikten („Peace for our time“). Chamberlain handelte immer wieder eigenmächtig, wahrte den Frieden und führte seine Appeasement Politik aus einer Position der Schwäche – wie Hitler abschätzig wahrnahm.
– Die britischen Streitkräfte waren, von der Royal Navy abgesehen, nicht zur Kriegführung fähig. London fürchtete Opfer der deutschen Luftwaffe zu werden. Die Vereinbarung von München verschaffte Zeit zur Aufrüstung, die zu spät begonnen worden war. Das lag auch daran, dass das Vereinigte Königreich noch unter dem Last des furchtbaren Ersten Weltkriegs stand.
– Die Franzosen waren nicht bereit, Krieg zu führen. Ministerpräsident Daladier wollte vor allem nach Hause.
– Der deutsche Widerstand versuchte die Konferenz scheitern zu lassen, in der Hoffnung, in dem unmittelbar darauf folgenden Krieg Hitler durch das deutsche Heer absetzen zu können. Die Naivität und Unfähigkeit des Widerstands tritt deutlich hervor, zumal Hitler 1938 so populär wie nie zuvor war.
– Die Menschen, die Chamberlain bei seiner Rückkehr einen jubelnden Empfang bereiteten, waren nicht kriegsbereit; allerdings die Deutschen auch nicht, wie Hitler enttäuscht feststellte als sie wiederholt Chamberlain zujubelten. Die Begeisterung über den friedenserhaltenden Erfolg täuscht darüber hinweg, dass Chamberlain die wahren, mörderischen Ziele Hitlers vollkommen unterschätzte – anders als Churchill.
Netanjahu scheint Recht und Unrecht zu haben. Appeasement lässt sich nur aus einer Position der Stärke führen und gegen einen Gegner, den man nicht unterschätzt und aufhalten kann. Das Münchener Abkommen verschaffte immerhin Zeit, die ausreichen sollte, um die Luftschlacht von England zu gewinnen und anschließend den Krieg.
Robert Harris: München, Roman, Heyne, 3. Aufl, München 2017, 431 S., 22,00 Euro (Hardcover)
P.S. Robert Harris lässt noch etwas anderes anklingen: Hitler und die Nationalsozialisten teilten die menschliche Rasse in Herrenmenschen und Untermenschen ein. Anschaulich wie vielleicht nur in einem Roman wird deutlich, dass im Januar 1933 die Macht an die eigentlichen Untermenschen übertragen worden war. Hermann Glaser diagnostizierte in einer glänzenden Analyse (1986) dazu passend Spießer-Ideologie.