Geschichtswissenschaft
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Mythos Lettow-Vorbeck

Mythos Lettow-Vorbeck Eine Demontage des Mythos Lettow-Vorbeck hat der deutsche Historiker Eckard Michels mit seiner (ausgezeichneten) Habilitationsschrift bereits 2008 vorgelegt. Dessen autobiographische Schriften legten Zeugnis ab von einer „zutiefst antidemokratischen, nationalistischen, rassistischen und Krieg wie Kolonialzeit verherrlichenden Einstellung … bei gleichzeitiger erschreckender politischer Naivität und militärischer Einseitigkeit.“ (S. 343) Ich bewerte das wesentliche Ergebnis als Stärke und Schwäche der Biographie zugleich. Stärke, weil erstens deutlich wird, dass Lettow-Vorbeck mit seiner Kriegführung massenhaftes Elend der ostafrikanischen …

Neoliberalismus – nun auch noch in der Geschichtswissenschaft

Neoliberalismus – nun auch noch in der Geschichtswissenschaft

Die Geschichtswissenschaft hat den Neoliberalismus entdeckt. Ein Blick in aktuelle Rezensionen vermittelt den Eindruck, dass Begriff und Vorstellungen über das, was der Neoliberalismus war, nicht präziser werden, dass die Differenzierungen mitunter zu einem diffuseren Bild führen, dass die ökonomischen Kenntnisse für eine Beurteilung fundierter sein dürfen, und schließlich, dass linke, also nicht liberale, sondern weltanschauliche Beurteilungen eines anderen Lagers auch in der Geschichtswissenschaft die Aussagen beeinflussen. Das sollte nicht überraschen, genauso wenig wie einige anregende und manche seltsam anmutende Untersuchungen.

Ansatzpunkt für die nachfolgenden Beobachtungen sind aktuelle Buchbesprechungen im Online Rezensionsjournal Sehepunkte (24 (2024), Nr. 9), das seit über 20 Jahren in München angesiedelt ist. Die Rezensionen von Publikationen mit dem Thema Neoliberalismus sind im bezeichnenderweise (?) betitelten Forum „Ein Gespenst geht um in der Welt: Zur Geschichte des Neoliberalismus“ untergebracht. Bekannte schräge Untertöne und Stereotype finden sich schon in der Einleitung von Christian Marx: „Entfesselung der internationalen Kapitalmärkte“, „Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche“ „selbst das einzelne Individuum sollten fortan unternehmerisch handeln“.

Das findet seine Fortsetzung in, wenn auch nur punktuell kritischen und ökonomisch schief erscheinenden Tönen gegenüber positiven Urteilen über den Neoliberalismus wie von Sebastian Edwards: The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism. Nele Falldorf rezensiert: „Zwei Jahre später erlebte die chilenische Wirtschaft eine schwere Rezession. Ursache hierfür war insbesondere der weitgehend unregulierte Bankensektor, der von linken Kritikern als Ergebnis der Schocktherapie angesehen wird.“ Vielleicht ist das meine Übersensibilität, die mich an die überflüssigen Kommentare auf Wikipedia erinnern, wo ständig linke Kritiker angeführt werden und infolgedessen eine von dort aus rechte Position kritisiert wird. Das Buch scheint lesenswert zu sein.

Apropos, and here it comes: „Eine neoliberale Ära – so lautet die verbreitete Charakterisierung der britischen Geschichte seit den 1970er Jahren. Demnach habe sich in Großbritannien eine rechte Ideologie von freien Märkten und Wohlfahrtsstaat-Abbau durchgesetzt und erst mit der Finanzkrise 2008 an Dominanz verloren.“ schreibt Juliane Clegg einleitend über Aled Davies / Ben Jackson / Florence Sutcliffe-Braithwaite (eds.): The Neoliberal Age? Britain since the 1970s. Allerdings bilden die Rezensentin und viele Beiträge des Sammelbandes eine Ausnahme. Hier scheint, vielleicht einem flüchtigen Überblick geschuldet und der zwangsläufig knappen Besprechung zu diversen Aufsätzen, fortgesetzte Differenzierung letztlich in einer Auflösung eines Gegenstands zu münden, was Unverständnis fördert, weil alles immer auch anders betrachtet werden kann.

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Wüstenkrieg, Propaganda, militärische Leistungen und Differenzierungsvermögen

Wüstenkrieg, Propaganda, militärische Leistungen und Differenzierungsvermögen In einer Zeit angestrebter Eindeutigkeit unterscheidet Differenzierungsvermögen Menschen. Das Leben ist vielfach nicht eindeutig, sondern widersprüchlich. Zuweilen sollte es eher um perspektivenreiche Beobachtungen statt rasches Bewerten gehen. In einer Zeit der Rückkehr des Krieges kann eine Beschäftigung mit Krieg, Schlachten, Kämpfen und Einzelschicksalen als Teil größerer Zusammenhänge nützlich sein für differenziertes Anschauen. Im Gefecht ist Zögern hingegen selten vorteilhaft. „Wirkung geht vor Deckung!“ ist eine militärische Maxime. Im Zweiten …

Quergelesen – Rezensionen von Christopher Clarks Frühling der Revolution

Quergelesen – Rezensionen von Christopher Clarks Frühling der Revolution

Beeindruckende Eindrücke aus einem Rezensionscluster ausgewählt. Ein Buch und Rezensenten, die etwas zu sagen haben und zu denken geben.

Zunächst ein bedenkenswerter, zeitlos gültiger Absatz aus einer Rezension des neuen großen Werks von Christopher Clark über die Freiheitsrevolution 1848/49 von Andreas Fahrmeir in sehepunkte:

„Clark erklärt den Erfolg des Anfangs der Revolution vor allem damit, dass in der überdeterminierten Krisensituation von 1848 eine Revolution aus allen möglichen Gründen ausbrechen konnte: wegen eines Witzes, eines zufälligen Pistolenschusses oder der Ankündigung einer eigentlich gar nicht geplanten Versammlung. Das führte selten zu stabilen Strukturen. Dagegen konnten die alten Gewalten dort, wo sie noch existierten (also – außerhalb Frankreichs – fast überall), den Zeitpunkt des Gegenschlags wählen und ihn mit großer Brutalität ausführen, zumal ihnen die wachsende Furcht in der Bevölkerung entgegenkam. Das ist insofern überraschend, als die regierenden Monarchen und ihre Berater bei Clark im Vorfeld der Revolution ziemlich schlecht wegkommen: Schließlich ließen sie die Krisen nicht nur eskalieren, sondern nahmen sie teilweise gar nicht wahr.“

Und Susanne Kitschun schreibt in ihrer Rezension über dasselbe Buch in sehepunkte:

„Wichtige Auslöser lagen für ihn zusätzlich zu grundlegenden Ursachen wie politischen Ideen und unmittelbaren Anlässen in einer „mittlere[n] Ebene der Kausalität: das Anwachsen der politischen Spannung, die Verhärtung der Sprache, der Zusammenbruch eines Konsenses, und die Erschöpfung der Kompromissbereitschaft, das Aufkommen von Fallstricken – kurz: eine politische Dynamik, die […] in Monaten und Wochen gemessen wird“ (411).“

Außerdem ist da ein Hinweis auf moderne Geschichtswissenschaft sowie eine vorbildliche, Komplexität anerkennende Betrachtung der Welt:

„Clark schreibt bewusst gegen ein solches vereinfachendes Bild, denn er will zeigen, dass es dem „Archipel aus Argumenten und Gedankenketten“ (23), in dem sich die Europäer in den Revolutionsjahren zurecht finden mussten, nicht gerecht würde. Er will der damaligen „verwirrenden Vielfältigkeit“, die von der „unvorhersehbaren Interaktion so vieler Kräfte“ (17) noch verstärkt worden ist, nur in Maßen ein retrospektives Ordnungsmuster abgewinnen. Ein Grund dafür ist, dass er auf Parallelen aufmerksam machen will, die er zwischen damals und heute sieht.“

Der Absatz stammt aus der Rezension von Dieter Langewiesche in sehepunkte zum selben Buch genauso wie dieser Eindruck:

Clark „habe das „Gefühl“, „die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden“, weil wir in einer ähnlichen „‚Polykrise'“ leben und in unseren Reaktionen darauf ebenso unsicher seien, wie die Menschen damals (1024).“

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