1945 – Eroberung und Besetzung Deutschlands aus alliierter Sicht
1945 – Eroberung und Besetzung Deutschlands aus alliierter Sicht

1945 – Eroberung und Besetzung Deutschlands aus alliierter Sicht

1945 – Eroberung und Besetzung Deutschlands aus alliierter Sicht

Über den Zweiten Weltkrieg und sein Ende wissen wir viel. Über das Dritte Reich und das NS-Regime wissen wir sehr viel. Regalmeter unterschiedlicher Interpretationen bis in die 1930er Jahre zurückreichend stehen uns zur Verfügung. Und dennoch gibt es immer wieder eine andere Perspektive, die zum Lesen und Nachdenken einlädt.

Das war unmittelbar nach Kriegsende nicht möglich, obwohl das Manuskript des bereits bewährten australischen Journalisten und Kriegsberichterstatters Osmar White (1909-1991) existierte. Der Verlag machte damals einen Rückzieher. Reportagen, die auch selbstkritische Passagen enthielten, waren erst und dann doch nicht willkommen.

In „Die Straße der Eroberer“ wie der Originaltitel lautete, berichtet Osmar White von seinen Kriegserlebnissen beginnend mit dem Überschreiten der deutschen Grenze mit General Pattons Dritter Armee im Winter 1944/45. Die Berichte enden im Sommer 1945 am Brandenburger Tor. White beschreibt seine Eindrücke von den zerstörten Städten und Dörfern und berichtet von seinen Beobachtungen, wie etwa zwei Hitlerjungen, die von ihrer Mutter vor einem amerikanischen Panzer gerettet werden, indem sie die beiden an den Ohren aus dem Haus zieht, in dem sie sich verschanzt hatten. Er besucht bedeutende Orte wie das Hauptquartier der Obersten Heeresleitung in Ziegenberg, Hitlers Berchtesgaden und die mit Kunstschätzen und Tonnen Gold vollgestopften Bergwerksstollen. White dokumentiert auch die Öffnung der Tore des Konzentrationslagers Buchenwald und versucht, eine eigene Sprache für das dortige Grauen zu finden. Wiederholt beschreibt und kritisiert er die Reaktionen der Deutschen, die ihm unterwürfig erscheinen und sich uniform vom NS-Regime distanzieren. Später kommt er zu einem ausgewogeneren Gesamtbild. Osmar White berichtet auch kritisch über das Verhalten der Sieger, der Amerikaner, Briten und sowohl positiv als auch negativ der Russen, die alle plünderten, sich als überlegene Siegernationen aufspielten und menschenunwürdig verhalten konnten, auch in den eigenen Reihen. Den Nürnberger Prozess beurteilte er als kontraproduktives Rache-Spektakel.

Statt auf die fünf Teile einzugehen sowie den umfangreichen Anhang mit weiteren Reportagen und Texten zum Originalmanuskript, möchte ich eine Reihe kompakter Auszüge aus dem journalistisch professionellen Text wirken lassen, weitgehend unkommentiert.

 

S. 81 – Teil „Frühling in Deutschland“ – zu Autoritätsgläubigkeit, Konformität und Gehorsam

„Ein einziges halbwegs amüsantes Beispiel für die bedingungslose Autoritätsgläubigkeit der Deutschen erlebte ich in Mainz. Die Räumung eines Häuserblocks verzögerte sich, weil aus einem der oberen Fenster geschossen wurde. Unten warteten die Infanteristen, bis ein Panzer kommen und die Sache erledigen würde. Da trat aus dem gegenüberliegenden Haus eine füllige Frau, an einem Besenstiel schwenkte sie eine weiße Fahne. Sie überquerte die Straße und verschwand in dem Haus, aus dem geschossen wurde. Nach fünf Minuten tauchte sie wieder auf und zog die beiden Scharfschützen an den Ohren hinter sich her. Es waren ihre Söhne, zwölf und vierzehn Jahre als. Sie gehorchten dem Befehl ihres Scharführers von der Hitlerjugend, der gesagt hatte, sie sollte sterben wie tapfere junge Werwölfe – zumindest gehorchten sie ihm so lange, bis ihre Mutter die direkte Befehlsgewalt übernahm.“

S. 184f. – Teil „Nach dem Krieg“ – zum krassen Elend

„Die Vertreibung der Sudetendeutschen war noch nicht das Schlimmste. Im August und September trafen auf den Berliner Bahnhöfen Waggonladungen kranker, hungriger Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen ein. Sie starben wie die Fliegen, lagen tot auf den vollkommen verdreckten Bahnsteigen. Ich ging an Nebengleisen entlang, wo Lastwagen vollbeladen mit Leichen standen, daneben hockten Frauen mitten in menschlichem Unrat und kochten Hundefleisch und Rüben in verrußten Dosen.“

 

S. 197 Teil „Fragen und Reflexionen“ – zur ewigen Bürokratie und ihren Opportunisten

„Fast genauso dumm wie das Fraternisierungsverbot war die Ankündigung, man wolle Deutschland entnazifizieren, indem Mitglieder und aktive Anhänger der NS-Partei aus allen verantwortungsvollen Positionen entlassen würden. Nach dem Sieg über die deutschen Armeen brach die Zivilverwaltung im Land vollständig zusammen. Die Verwaltung hatte fast ganz in den Händen von Parteimitgliedern und ihren Speichelleckern gelegen. Diese Personen tauchten ab oder versuchten es zumindest, als die Invasoren nahten. Wichtige Aufgaben funktionierten nicht mehr, bis die Alliierte Militärregierung die Sache in die Hand nahm und alle Verwaltungsbeamten, alle Polizisten, Techniker und Handwerker, die sie auftreiben konnte, in ihren alten Positionen zurück an die Arbeit brachte.“

 

S. 198 – zu: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen

„Die Spitzen der Industrie und Finanzwelt schienen vor Verfolgung sicher. Wissenschaftler und hochspezialisierte Techniker der Rüstungsindustrie gerieten selten ins Visier der Nazi-Jäger. Sie genossen den Status hochbegehrter Beute, vor allem wenn sie Experten für Düsenantrieb oder Raketentechnologie waren.“

S. 201 – zur Frage, ob es einen nationalen Charakter gibt

„Vielleicht lag der Schlüssel zu diesem Rätsel in einer Eigenheit des deutschen Charakters, gewissermaßen einem Instinkt, ohne Fragen und Protest Befehlen zu gehorchen, die von den Mächtigen kommen. In Hitlers Reich war Disziplin zu einer abhängig machenden Droge geworden – das Opium des Volkes.“

S. 211 – zum Wesen tyrannischer Herrschaft

„Die Auswahl der KZ-Wärter folgte einer teuflischen Logik. Rezept für jeden Diktator in einem Polizeistaat. Teile deine Anhänger in Begeisterte und weniger Begeisterte. Suche unter den Begeisterten nach Schwächlingen, Perversen und Versagern, die Ärger machen könnten, wenn man sie nicht im Griff hat. Kontrolliere sie, indem du sie in den Status lizensierter Terroristen erhebst, die Gegner einschüchtern und beseitigen, Sie werden in deinen Diensten glücklich sein. Sie werden deine ergebensten, loyalsten Bewunderer sein, weil ihnen du ihnen eine Chance gegeben hast zu zeigen, was sie können.“

S. 219 – zur Mechanik von Macht und Mitlaufen

„Aber die gebildeten Deutschen haben diesen pseudowissenschaftlichen Unsinn, die Arier seien eine Rasse von Übermenschen, doch bestimmt nicht geschluckt?“

„Bildung spielt dabei überhaupt keine Rolle. Ob gebildet oder nicht, es ist schmeichelhaft, beruhigend zu hören, daß man einer überlegenen Rasse angehört. Ich weiß das, weil ich aus einer solchen Familie stamme, Die Engländer halten sich für so überlegen, daß sie sich keine Gedanken machen müssen, wie sie andere überzeugen! Gott hat Britannien zum Herrschen geschaffen.“

S. 233 Teil „Schluß“ – zu durchsichtigen Behauptungen

„Der Blick aus der Vogelperspektive auf die Auswirkungen Tausender von Bombenangriffen vermittelte mir eine Vorstellung, was der Begriff ‚totaler Krieg‘ bedeutete. Totaler Krieg war ein Krieg der ganzen Bevölkerung. Er unterschied nicht – und konnte nicht unterscheiden – zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern. Alles Gerede, Frauen, Kinder und Alte ritterlich zu verschonen, war heuchlerischer Unsinn.“

Osmar White: Die Strasse des Siegers. Eine Reportage aus Deutschland 1945, englische Erstausgabe 1996, deutsche Ausgabe Piper Verlag, München, Zürich 2005, 294 S., antiquarisch erhältlich.