Matthias Heitmann: Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens, TvR Medienverlag 2015, 197 Seiten, 19,90 Euro.
„Es geht nicht darum zu finden, was wir suchen; es geht darum herauszufinden, was wir suchen wollen und künftig brauchen werden. Und dazu müssen wir mitunter das hinterfragen, was wir glaubten, bereits gefunden zu haben.“
Kritik am „Zeitgeist“ ist billig zu haben. Unlängst gab „Der Postillion“ bekannt, dass Facebook ein neues Feature einführt: das automatisch wechselnde Aktions-Profilbild. Es sei nicht einfach, im Kampf für eine bessere Welt stets auf dem Laufenden zu bleiben. Gerade für Facebook-Nutzer sei die Peinlichkeit oft groß, wenn man vergisst, sein Profilbild dem aktuellsten guten Zweck oder kollektiven Trauerereignis anzupassen. Eine neue Funktion soll dieses Problem nun beheben. „Je suis Charlie“ im Wechsel mit dem unverwüstlichen „Atomkraft? Nein danke!“ und ganz aktuell „Refugees Welcome“. Wer aber bei Matthias Heitmans neuem Buch „Zeitgeisterjagd“ nur „Scherz, Satire, Ironie“ erwartet, wird womöglich enttäuscht. Vergnügen bereitet die Lektüre dem Leser, der Freude am Wort- und Denkwitz hat, ohne Zweifel. Die Titulierung des obligaten Pseudo-Querdenkers in der populären Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens als „Komfortzonen-Rebell“ finde ich ebenso spaßig wie treffend. Doch Heitmanns kabarettreife Eloquenz bleibt nicht an der Oberfläche, seine Rede zielt auf die „tiefere Bedeutung“. Er nimmt seinen Leser mit auf eine Erkundung der Wurzeln zeitgeistiger Moden und Trends der politischen Öffentlichkeit und kommt gleich im Eingangskapitel auf die Summe seiner Entdeckungen: „Analysiert man den Zeitgeist ein wenig genauer, entdeckt man, dass sein eigentliches ,Prinzip‘ in dem kontinuierlichen Infragestellen und Kritisieren des eigenständig denkenden, ambitionierten, freiheitsliebenden und seinen eigenen Weg suchenden Individuums besteht. Der heutige Zeitgeist präsentiert sich als ein überaus gesellschaftskritischer, aber ohne es zu sein: Seine Kritik richtet sich nicht gegen gesellschaftliche Missstände und Strukturen, sondern entspricht einer Abneigung gegen den Menschen und das Menschsein an sich. Für eine solche Geisteshaltung gibt es einen Fachbegriff: Misanthropie. Sie ist das dem Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts zugrunde liegende Leitmotiv oder ,Prinzip‘.“ Die Untersuchung und Diagnose nimmt ein breites Spektrum von Themenfeldern in den Blick: Toleranz, Bildung, Emanzipation, Überfluss- und Wachstumskritik und viele weitere Probleme einer „lebensmüden Gesellschaft“. Der Befund an Symptomen ist erdrückend, die Diagnose: Das Leitbild des mündigen freien Bürgers hat sich unter dem Einfluss eines seit über hundert Jahren wirksamen Etatismus zu dem Komplement eines paternalistischen Staates gewandelt. Auch in der postsozialistischen Ära wirken die Ideen fort, dass es eines moralisch wirkenden Überstaates braucht, um das Böse im Menschen zu unterdrücken. Ein Volk, das das Anzetteln zweier verlorener Weltkriege als Eigenschuld anerkennt, ist empfänglich für diese Botschaft. Der Mensch ist dem aufklärerischen Auftrag „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“ nicht gewachsen. Er braucht Führung und Anleitung, wie das Mündel den Vormund benötigt.
Matthias Heitman einen Philosophen zu nennen, ist nicht zu hoch gegriffen. Philosophen sind Selbstdenker. Viele der herausragenden arbeiteten abseits des akademischen Getriebes. Philosophen sind die Diagnostiker des Zeitgeistes oder nur Fachwissenschaftler. Sie schreiben verständlich und klar, weil sie formulieren, was sie verstanden haben. Heitmann hat den Geist der Zeit verstanden. Lesen! (hk)