Ewige Jugend – Ende einer Kulturepoche?
Ewige Jugend – Ende einer Kulturepoche?

Ewige Jugend – Ende einer Kulturepoche?

Ewige Jugend – Ende einer Kulturepoche?

Früher bemühten sich die Menschen älter und seriöser zu wirken. Heute erstellen Millionen Menschen Produkte und bewerben Lebensstile, damit Kunden Milliarden ausgeben, um ihr ganzes Leben jünger zu wirken. Dem Phänomen ewiger Jugend geht der in Stanford lehrende Literaturprofessor Robert Pogue Harrison in einem anspruchsvollen und anregenden Buch nach. Sein interdisziplinärer Ansatz verbindet Philosophie und Literatur zu einer historischen Theorie der Neotonie. Neotonie meint das zeitliche Dehnen der Jugend, ein Retardieren des Alterns. Harrison erklärt damit nicht weniger als das Menschsein und die Geschichte der Menschheit.
In nur vier Kapiteln entfaltet der Romanist und Kulturphilosoph seine Überlegungen.

  • „Anthropos“ enthält die zentrale Aussage, die Besonderheit und Leistungsfähigkeit des Menschen resultiere aus einem stark verzögerten Erwachsenenwerden, aus einer gestreckten Kindheit. Wir sind Kinderaffen mit einem einzigartig leistungsfähigen Gehirn.
  • Im Mittelpunkt von „Weisheit und Genie“ steht die Feststellung, dass unweise Gesellschaften zusammenbrechen oder durch autoritäre Regime fortdauern. Das aktuelle Zeitalter sei durch einen Verlust des kulturellen Gedächtnisses gekennzeichnet.
  • „Neotone Revolutionen“ besteht aus historischen Fallbeispielen für das Zusammenwirken von Weisheit und Genie, darunter die amerikanische Unabhängigkeit. Traditionen erhalten jüngere Formen oder jugendliches (revolutionäres) Denken einen höheren Reifegrad.
  • In „Amor mundi“ diagnostiziert Harrison das heutige Problem: Verjugendlichung statt Verjüngung. Stattdessen sei novat reiterando geboten, Erneuerung durch Wiedergewinnung und Umwandlung von Traditionssträngen für Innovationen.

Das gelehrte Buch enthält zumindest eine gute und eine schlechte Botschaft. Die gute lautet: Die einzigartige Größe der westlichen Zivilisation sei das Ergebnis einer mannigfachen Erneuerung durch Schöpfen aus Quellen. Die schlechte besteht darin, dass die Wogen der Genialität des Westens kaum mehr Raum für Weisheit lassen. Speziell für Amerika stellt sich demnach die Frage, ob sich das Land und die Kultur selbst unverständlich geworden sind und es keinen Weg zurück mehr gibt.

Harrison ist kein zweiter Spengler. Dennoch ist der Kulturpessimismus nicht zu überlesen. Anthropologie und Kulturkritik wechseln sich ab, starke und schwache Beobachtungen und Argumente ebenfalls. Vieles bleibt vage, was angesichts des ganzheitlichen Ansatzes nicht erstaunt. Offen bleibt, ob wir uns überhaupt „am Ende dieser Kultur und am Beginn einer neuen befinden“ und, ob die konstatiert Beschleunigung der Welt und das von wesentlichen Dingen, insbesondere Nachdenken, ablenkende Rauschen der neuen Medien so umwälzend wirken, wie es Harrison und viele Feuilletonisten annehmen.

Ein guter Rat ist allemal enthalten, neben vielfältigen Einblicken in Literatur und Philosophie: Wir sollten die Weisheit großer Denker wach halten und als Quelle künftiger Erneuerungen nutzen. Die Weisen des Abendlandes sind jünger als angenommen, weil sie Zeitloses erkannt haben, auch die elementaren Bestandteile einer Verfassung der Freiheit. Unsere Aufgabe ist es, das Zeitlose immer wieder zutage zu fördern. Schließlich ist die Geschichte die beste Lehrmeisterin mit den schlechtesten Schülern.

Michael von Prollius

Robert Pogue Harrison: Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns, Carl Hanser Verlag, München 2015, 288 S., 24,90 Euro.