Alterswerke können große Synthesen bieten. Fast achtzigjährig hat der in England (politische) Ideengeschichte lehrende Amerikaner Larry Siedentop ein Traktat über eine stimmige Ergänzung von Christentum und Säkularismus als Wesen des Westens verfasst. Gegen vorherrschende Ansichten begründet Siedentop die Herausbildung von Individuum und Freiheit weitüberwiegend mit dem Christentum, nicht mit der Antike. Dem Weltrevolutionär Paulus weist er dabei eine entscheiden Rolle zu, wenn auch der Paradigmenwechsel der hellenistisch-römischen Weltsicht von einer Vielzahl christlicher Denker abgerungen wurde.
Familie versus Individuum
Siedentop stützt sich auf ältere Historiker, vor allem Fustel de Coulanges, wenn er die griechische Antike bis zur Entstehung der Demokratie als Kult basiert beschreibt. Die Familie mit ihrem jeweiligen spezifischen Kult und dem Vater als Vorsteher und Priester bildeten demnach den Bezugspunkt allen Lebens: Einerseits regelte die religiös konstituierte Familie das Leben des Einzelnen und legte dessen Handlungsspielräume fest. Andererseits bildete die Familie den überragenden Baustein von Gesellschaft und Öffentlichkeit – wiederum im Kern mit der familienspezifischen Religionsbestimmung. Die Verbindung von zwei Familien bedurfte einer Einigung über einen gemeinsamen Kult. Die Vereinigung von Stämmen war noch anspruchsvoller und musste auf eine höhere kultische Abstraktionsebene gehen. In dieser Sicht waren die griechischen Städte zunächst Familienverbände, in denen das Religionskollektiv und nicht der individuelle Bürger maßgeblich waren. Die Familie war die Kirche. Das Eigentum war Familieneigentum. Die Könige waren Priester. Mit dem Konflikt zwischen Aristokratie und zumeist zugezogenen Nicht-Bürgern nahm ein grundlegender Wandel Gestalt an. Das bislang durch ein kultisch-familiäres Regelwerk bestimmte Leben wich im Zuge der Zentralisierung abstrakteren Institutionen. Mitbestimmung erwirkte auf Militärdienst gründende Bürgerrechte. Unsere heutige, individualistische Sicht auf die Antike ist für Siedentop einer argumentativ erfolgreichen, antiklerikalen Strategie der Aufklärung geschuldet.
Verbogene Geschichte
Leider ist Siedentops historische Argumentation in vielerlei Hinsicht schief. Das Eigentum gilt keineswegs als griechische, sondern vielmehr als römische Errungenschaft – das römische Privatrecht ist eine kräftige Wurzel unserer Zivilisation mit dem Individuum im Mittelpunkt. Die von ihm beschriebene primär archaische, vor-antike Gesellschaftsstruktur Griechenlands beginnt sich mit Drakon, Solon, Kleisthenes und Perikles zu wandeln. Die klassische Antike, über die wir vielmehr wissen als die archaische Vorzeit und die im Mittelpunkt des Interesses von Renaissance und Aufklärung stand, ist gerade nicht mehr rein Familien dominiert, sondern in der Polis durch den Prozess einer progressiven Herrschaft des Rechts und einer zeitweisen Demokratisierung geprägt. Der Begriff res publica – die öffentliche Angelegenheit – ist der römische Begriff für das, was über die Familienangelegenheiten hinaus geht, weil es in einer komplexeren Welt nicht von einer oder zwei Familien geregelt werden kann. Schon in der griechischen Antike ist das öffentliche Mitbestimmungsrecht individuell geregelt und vor allem von der Bürgerschaft und dem Wehrdienst abhängig. Frauen, Sklaven und Ausländer durften nicht mit entscheiden. Allerdings ist Siedentop zuzustimmen, dass die vorchristliche Auffassung vom Individuum eine gänzlich andere war.
Erst die Jesusgeschichte brachte in Siedentops Deutung den Durchbruch zum Individuum. Die Zeit warf reif für die mächtige Idee. Während die Rollenmuster der antiken Stadt nicht mehr funktionierten begründete der persönliche, unmittelbare Glaube an einen liebenden Gott eine christliche Freiheit für jedermann und die Gleichheit der Menschen. Die individuelle Handlungsmacht verdrängte die kollektive. Glaubens- und Gewissensfreiheit – losgelöst von familiären Geboten – wurden zu Bastionen im intellektuellen Ringen. Allerdings lässt sich auch diese Sicht als Rückdeutung hinterfragen, schließlich entsprach diese Auffassung nicht dem gelebten Verständnis der Menschen in der Spätantike und im Mittelalter. Das änderte sich erst mit der Aufklärung.
Wohlfeile Absichten
An dieser Stelle kann die bis in die Neuzeit reichende, raumgreifende Argumentation nicht weiter nachvollzogen werden. Sein Anliegen macht Larry Siedentop in Einleitung und Schluss deutlich, er möchte die Konfrontation von Religion und Säkularismus auflösen, durch eine andere Sicht auf den Liberalismus dem Westen eine Wertebasis verschaffen, über Moral zu einer Gegenseitigkeit als politischer Gemeinschaft gelangen. Dem dient die Betonung des Kults in der Antike und der säkularen Vernunftargumentation der Christen. Allerdings nimmt Siedentops Beschreibung der Erzählung dem Zauber, die Menschen seien vorstaatlich freier gewesen – als Individuen mit Eigentum und Handlungsfreiheit.
Das Ansinnen ist ehrenwert, lehrreich und bleibt doch unvollendet. Siedentop argumentiert politisch, aber erklärt nicht historisch. Das politische Traktat kann die neuen Ideen aufzeigen, aber wie sie sich durchsetzten bleibt unklar. Das Problem von Moral ist, dass sie heteronom bleibt, wenn sie vom Individuum ausgeht und nur kollektiv konstruiert integrierend wirkt.
Historiker, bleib bei deinen Leisten
Die Erklärung von Philippe Nemo: Was ist der Westen? und von Martin Rhonheimer: Christentum und säkularer Staat überzeugen mich weitaus mehr. Letzterer konstatierte, die christlich-abendländische Geschichte speise sich aus dem konstitutiven Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt – und Ideenwelt, möchte ich hinzufügen. Der Säkularisierungsprozess des modernen Staates gehe wesentlich aus dem Geist des Christentums hervor. Aber, griechisches Verfassungsdenken und der echte Humanitätsschub der römischen Rechtskultur, die erst die individuelle Person zur Geltung brachte, bilden zwei Säulen neben der dritten, der biblisch-jüdischen Gerechtigkeitstradition, die vom Christentum produktiv weiterentwickelt worden sei. Für Martin Rhonheimer wurde es mit guten Gründen zur Seele einer Zivilisation. Das Christentum hat jedoch das Individuums nicht erfunden.
Für mich verkörpert das dem Buch vorangestellte Zitat die Misere. Demnach soll die Geschichtswissenschaft sich mit der menschlichen Seele befassen. Das ist unmöglich, denn die Seele entzieht sich dem Historiker.
Michael von Prollius
Literaturangabe: Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015, 495 S., Euro.