Ein Song, viele Erkenntnisse
Am 28. Januar 1985 wurde in den A&M Recording Studios in Hollywood unmittelbar nach der Verleihung der American Music Awards ein Song aufgenommen, der wie selbstverständlich in jedermanns Ohr und in manches Herz gelangt ist. Zumindest für alle, die in den 80er Jahren Pop und Rock hörten. Tatsächlich war dieses Stück Musikgeschichte mit fast 50 Musikern, darunter allein 20 Stars als Sänger, ein ziemlich unglaubliches Projekt. Das Ergebnis, nun nicht eins, sondern viele: die am besten verkauften Singles der 80er Jahre, mehr als 20 Millionen Tonträger, über 80 Millionen US-Dollar Einnahmen (heute sind das umgerechnet über 200 Millionen). Nummer 1 in den Charts mehrerer Länder für mehrere Wochen, Grammy, MTV Video Awards Auszeichnung. Am 5. April 1985 wurde der Song weltweit gleichzeitig von über 5.000 Radiostationen gespielt.
USA for Africa: We are the World
Es sind indes weniger diese Erfolge, die das Lied aus meiner Wahrnehmung so interessant machen, sondern seine Entstehung. Auf Netflix gibt es eine Dokumentation, die viele Einsichten bietet: The Greatest Night in Pop. Auf Youtube gibt es zudem Einblicke einer Jahrzehnte zurück liegenden Fernsehproduktion.
Der Song wurde von Michael Jackson und Lionel Ritchie unter Zeitdruck geschrieben, produziert von einem der größten Musik-Produzenten: Quincy Jones, der die Stars auch dirigierte und zusammen mit Lionel Ritchie dafür sorgte, dass die Egos in einem zunehmend heißen Raum neben einander bestehen konnten und vor allem jede Persönlichkeit performen konnte. Quincy Jones hatte auf einen Zettel am Eingang geschrieben: Lasst Eure Egos draußen. Berührend sind die fast unbemerkten Gesänge von Michael Jackson, der zunächst ganz allein im Aufnahmeraum steht und eine Leitversion zur Orientierung aufnimmt.
Eine organisatorische Herausforderung war es, nicht nur Stars wie Stevie Wonder, Paul Simon, Kenny Rogers, Tina Turner, Billy Joel, Diana Ross, Dionne Warwick, Willie Nelson, Al Jarreau, Bruce Springsteen, Kenny Loggins, Steve Perry, Daryl Hall, Huey Lewis, Cyndi Lauper, Kim Carnes, Bob Dylan, Ray Charles u.v.a.m. zum Mitmachen zu bewegen, sondern sie an einem Abend in einem Studio zusammen zu bringen. Die Arbeiten dauerten dann von 21 Uhr bis um 6 Uhr in der Früh. Die Solo-Beiträge wurden ab 4 Uhr morgens aufgenommen. Bruce Springsteen sang, als hätte er ein zerbrochenes Glas im Hals, was dem Song eine ganz besondere Note, auch im Duett mit Stevie Wonder, verleiht. Springsteen hatte am Abend zuvor seine Born in the USA Welttournee beendet und musste aus einem Schneechaos von Buffalo nach Kalifornien gelangen.
Eindrucksvoll ist die Reaktion der Stars auf einander. Ganz können die Egos nicht verschwinden. Nicht alle können ein Solo singen und das besteht nur aus einer Zeile. Diana Ross weinte nach dem Abschluss – sie wollte nicht, dass der Abend aufhört. Gruppen- und Kleingruppendynamiken lassen sich beobachten. Projektmanagement. Rollen in einer Gruppe. Führung einer Hochleistungsgruppe. Psychologisches Feingefühl. Krisenmanagement angesichts unabsehbarer Schwierigkeiten bei der Aufnahme und dem Singen, später auch aufkommende Müdigkeit und Gereiztheit. Konsenslösungen werden gesucht. Potenzielle Störkandidaten mussten eingehegt werden. Lionel Ritchie wirkte geradezu wie ein Diplomat und als Energiebündel an allen Brennpunkten. Unmittelbar zuvor hatte er die Music Awards moderiert und dort mehrere Songs gespielt.
Es gib faszinierende Zusammenstellung bei den 21 Soli und Harmonien, z.B. Paul Simon gefolgt von Kenny Rogers, erhebend, sehr besonders Dionne Warwick und Willie Nelson, gefolgt von Al Jarreau. Diese Aufnahme erwies sich als schwierig aufgrund technischer Probleme und weil Al Jarreau nicht mehr ganz klar war. Enorme Energie, tragend und kribbelnd, strahlt Michael Jackson gefolgt von Huey Lewis, der mega aufgeregt war, weil er ad hoc für Prince einspringen sollte, und Cyndi Lauper aus. Über weite Strecken „lost“ war Paul Simon, dem zu fortgeschrittener Zeit von Stevie Wonder am Piano vorgesungen wurde, wie er singen sollte, und dann einen tragenden Part erhielt. Die unterschiedlichen Stimmen und Persönlichkeiten sind faszinierend. Einzeln in der Gruppe wirken die Stars sehr menschlich, mitunter schüchtern, manche giggeln. Sie reagieren auf einander. Viele Berührungen, die berühren. Umarmungen, näherkommen. Mitten in der Nacht gaben sich die Stars Autogramme, Dianna Ross hatte zuerst Daryl Hall gefragt.
Überraschend sind die sehr zugewandten Szenen, der Wertschätzung und des Kümmerns sowie der positiven Feedbacks, die die Künstler einander gaben. Viele scheinen unsicher, ob ihr Beitrag passte, so Cyndi Lauper, die bei einer Harmonie super improvisierte. Die Solisten standen in einem Halbkreis um Mikrofone und sollten dann aus dem Hintergrund für ihren Teil einen Schritt nach vorne machen. Bemerkenswert sind die vielen Takes, die es brauchte, ob im Chor oder bei den einzelnen Beiträgen der Profis. Indes entstand offenbar bereits beim Betreten des Studios ein unmittelbarer Kameradschaftsgeist. Es war eine einzigartige Begegnung. Die Künstler, individuelle Persönlichkeiten, Stars, die vor tausenden Menschen spielten, haben sich selbst erfahren, im kreativ chaotisch zielgerichteten Miteinander. Es ist die Menschlichkeit, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Das Projekt ist ein Beispiel für Kreativität, Engagement und finanzkräftige private Hilfe zur Linderung von Not. Alle wirkten ehrenamtlich mit, auch die Kameraleute, Band und Techniker. Die Hungersnot in Äthiopien hatte wesentlich machtpolitische Gründe, die die Folgen von Dürreperioden akzelerierten, und konnte mit USA for Africa nur, aber immerhin punktuell gelindert werden. Frieden und Marktwirtschaft sind seit je her die Voraussetzungen für die Beendigung von Hunger und Elend. Menschen kommen dafür zusammen.