Geoökonomie – Perspektive und Werkzeug
Geopolitik ist ein geläufiger Begriff. Gemeint sind damit außen- und sicherheitspolitisches Denken und Handeln, die über nachbarstaatliche Konstellationen hinausreichen und Großräume von größeren Mächten bis hin zu globalen Fragen staatlichen Einflusses umfassen.
Geoökonomie ist ein weniger etablierter Begriff, der in den letzten Jahren allmählich Verbreitung findet. Das hat mit den durch die Corona-Politik unterbrochenen Lieferketten und der Abhängigkeit von ausländischen Produktionsstandorten, der zunehmend verbreiteten wirtschaftlichen Protektionismus- und Sanktionspolitik sowie der neuen Blockbildung respektive Konfrontation mit Russland und China zu tun.
Geoökonomie ist wirtschaftliches Denken und Handeln, die sich auf internationale und weltweite Außen- und Sicherheitsthemen erstrecken, darunter Handel, Finanzen, Energie und Technologie, aus denen interventionistische Mittel zur Erreichung strategischer Staatsziele eingesetzt werden. Seit US-Präsident Trump ist neomerkantilistische Geoökonomie ein vieldiskutiertes Thema, wenn auch nicht unter diesem Begriff. Zuvor gilt das bereits für die sogenannte chinesische Seidenstraße. Nicht-staatlicher Aktivismus ist bisher insbesondere auf Konsum- und Umweltthemen gerichtet, zudem auf den Finanzsektor. Zum Begriff und seiner Entstehung siehe diesen sehr kurzen Artikel bei Chatham House.
Für Geoökonomie gibt es keine anerkannte Definition. Wirtschaftliche Werkzeuge zum Erreichen geopolitischer Ziele oder auch der Einsatz geopolitischer Mittel für ökonomische Ziele lässt sich darunter verstehen. Ganz allgemein kann Geoökonomie verstanden werden als das Zusammenspiel zwischen internationaler Wirtschaftspolitik, Geopolitik und Strategie. Eine ökonomische Perspektive bietet dieser Artikel in der Zeitschrift Wirtschaftsdienst (2021).
2016 erschien die vermutlich erste Monographie der aktuellen Zeit zur Geoökonomie: „War by other Means. Geoeconomics and Statecraft“ von Robert D. Blackwill, früherer US-Deplomat und Dekan der John F. Kennedy School of Government in Harvard, und Jennifer M. Harris, frühere Mitarbeiterin im U.S. National Intelligence Council und im Planungsstab des US-Außenministeriums. Die Autoren plädieren für eine Rückkehr und für eine Erneuerung ökonomischer Techniken der Staatskunst unter der Bezeichnung Geoökonomie. Sie verstehen darunter die systematische Verwendung ökonomischer Instrumente, um geopolitische Ziele zu erreichen.
Siebe geoökonomische Werkzeuge betrachten die beiden beim Council on Foreign Relations tätigen Autoren für ihre Untersuchungen mit dem Ziel, „The Lost Art of Statecraft“ wieder zu beleben (Stand bis 2016):
- Handelspolitik, z.B. im Konflikt mit der Ukraine,
- Investitionspolitik, z.B. durch Staatsfonds und ausländische Direktinvestitionen sowie Staatsunternehmen,
- Ökonomische Sanktionen, die zwar ein allenfalls gemischtes Bild hinsichtlich ihrer Wirksamkeit abgeben, aber nach Einschätzung von Blackwill/Harris durch Gebrauch des US-Dollars als Hebel, den Ausschluss von Märkte und das SWIFT-System aufgewertet werden könnten,
- Cyber mit zumindest partiell ökonomischen Zielen, z.B. Einsatz von Stuxnet gegen das iranische Atomprogramm oder Ziele aus den Sektoren Finanzen, Energie, IT und Luftfahrt,
- ökonomische Hilfe, militärisch und humanitär, z.B. durch die USA für Ägypten und Katar für die Hamas,
- Finanz- und Geldpolitik, um die Kosten für die Verschuldung zu beeinflussen, aber auch als Kreditvergabe oder garantierte Kredite und Bailouts wie der EU für Zypern, schließlich
- (wirtschafts)politische Maßnahmen, die auf den Energiesektor und Gütermärkte einwirken, z.B. der Gaslieferstopp Russlands für Teile Europas.
Blackwill und Harris plädieren nicht für Wirtschaftspolitik oder einen neuen Merkantilismus, sondern dafür, wirtschaftliche Mittel und Macht für den Schutz des Staates und einer Veränderung des Verhaltens internationaler Akteure einzusetzen. Ihr Ansatz lässt sich als Teil des US-Empire-Building im Sinne von Christopher Coyne begreifen.
Die Ausführungen befassen sich ausführlich mit der chinesischen und der amerikanischen Außenpolitik im historischen Kontext, zudem mit dem geoökonomischen Potenzial der USA und der internationalen Energiewende. Hinzu kommt das Aufzeigen des bereits verbreiteten Einsatzes geoökonomischer Mittel durch andere Staaten als die USA. Geoökonomie ermögliche das Erschließen neuer politischer Optionen und neuer außenpolitischer Mittel. Es ließen sich Veränderungen von Politik und Märkten erzielen, weil Kalkulationen verändert werden würden. Folglich sei es dann nicht notwendig, Krieg zu führen.
Bewertung
In einer Gesamtbetrachtung handelt es sich um eine interessante Wiederbelebung und Systematisierung des Themas Geoökonomie, die sich nicht in einer Akzentverschiebung der etablierten geopolitischen Perspektive erschöpft. Die vielen dargelegten Fakten und Beispiele ergeben ein mosaikartiges Bild. Gleichwohl bleiben die Ausführungen in einem Zwischenstadium stecken, halb theoretisch-konstruktivistisch, halb pragmatisch-exemplarisch. Dadurch scheinen Anwendbarkeit und nutzen ein Stück weit auf der Strecke zu bleiben. Eine genaue Analyse im Einzelfall unter Berücksichtigung unbeabsichtigter Konsequenzen erscheint unabdingbar. Das gilt beispielsweise für Sanktionen, 2016 noch vor allem gegen Iran, die durch SWIFT und Dollar verstärkte werden könnte, aber weder einsthaft als Ersatz eines Kriegs gelten können noch die erwünschten Konsequenzen zeitigen konnten und können, wie bei fast allen Sanktionen.
Letztlich stellt sich die Frage, ob das vorgeschlagene Ausüben ökonomischer Macht(mittel) tatsächlich staatliche Sicherheit befördert. Die geopolitische Bilanz der USA seit dem Zweiten Weltkrieg ließe auch den Schluss zu, dass lediglich ein weiteres, aber nicht ein geeigneteres Interventionsmittel geschmiedet wird, mit den üblichen Interventionsfolgen.