von Helmut Krebs
Von der Antwort auf diese Frage hängt für die liberale Bewegung eine Menge ab. Wenn es diesen nicht gibt, dann handelt es sich um eine historisch vergängliches Phänomen. Ein Beispiel für mehr zufällige Strömungen ist der Konservatismus. Niemand vermag den Begriff in einer Weise zu definieren, dass damit ein erheblicher Teil derjenigen, die sich als Konservative verstehen, einverstanden ist. Die Strömung eint nichts Bestimmtes, sie ist eher Ausdruck eines ungefähren Lebensgefühls, einer Abneigung gegen Veränderung. Ist also Liberalismus in dieser Weise selbst arbiträr, vielleicht als Ausdruck eines bestimmten Freiheitsimpulses. Dann wäre eine Abgrenzung gegen andere Strömungen, die sich die Freiheit auf die Fahnen schreiben, einschließlich religiöser Bewegungen, unmöglich. Die Wandervögel des ausgehenden 19. Jahrhunderts sangen das Lied von der Freiheit und meinten damit doch das Gegenteil dessen, was ich darunter verstehe.
Kernlose Ideen zerfallen oder mutieren beliebig. Ist der Liberalismus längst in ein Delta von tausend Flüssen zerfasert, die niemals wieder zueinander finden können? Ist es ein Wieselwort geworden, für bestimmte Kreise attraktiv, doch beliebig mit Inhalt zu füllen. Gibt es also, wie der Schweizer Monat es Karen Horn (Ausgabe Juli/August 2015, S. 3) in den Mund gelegt hat, den „wahren“ Liberalismus gar nicht?
Wenn es aber gute Gründe gibt für die Annahme, dass es einen festen Kern doch gibt und einen „wahren“ Liberalismus, stünden wir vor folgender Situation. In einer sehr zergliederten ideologischen Landschaft streiten sich die Richtungen darum, ob – gemessen am Kerngedanken des Liberalismus – bestimmte politische Programme, Maßnahmen oder Tatbestände kritikwürdig sind oder zustimmungsfähig. So viele Stimmen und Meinungen auch vorhanden wären, so gäbe es doch einen gemeinsamen Maßstab. Es ist anzunehmen, dass ein Kern eben ein Kern und nicht mehr ist. Der Maßstab würde Varianten und Abweichungen in ungewissen Projekten zulassen (und die Zukunft ist immer ungewiss), er wäre gegen viele Standpunkte indifferent, weil viele Wege nach Rom führen. Es gäbe weiterhin Vielfalt und Streit, aber es gäbe doch die Möglichkeit, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Ein Nenner, der auch Wesensfremdes sicher ausschließt.
Wie kann man sich der Antwort auf die Frage nähern? Wir müssen den Begriff als einen sowohl historischen als auch philosophischen auffassen. Philosophisch bedeutet, im Fall des Liberalismus, eine Denktradition, in der er sich herausgebildet hat und die bestimmte Grundsätze kennt. Historisch bedeutet hier, dass er nur konturiert werden kann, wenn wir seinen historischen Bezugsrahmen nicht zu weit und nicht zu eng fassen.
Der Liberalismus ist als eine Strömung der Aufklärung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden. Er fußt weltanschaulich auf dem neuzeitlichen Rationalismus, der bereits seit dem 16. Jahrhundert vor allem von der Naturwissenschaft entwickelt wurde (und weit zurück in die Antike reicht). Der Liberalismus war eine Ideologie, die die Ersetzung der merkantilistischen Wirtschaftspolitik durch den Freihandel propagierte. Sie setzte sich für eine verfassungsbasierte demokratische Regierung ein. Aus diesen historischen und philosophischen Fäden formten die klassischen Liberalen – namentlich Hume und Smith – ein Denkgebäude, das drei zentrale Werte in sich einschloss:
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Die freie Marktwirtschaft mit Sondereigentum an den Produktionsmitteln, basierend auf einer spezialisierten Arbeitsteilung in offenen Großgesellschaften
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Der besondere Schutz von Freiheit und Eigentum als den Grundrechten
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Die Herrschaft des Rechts und die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz in einem Rechtsstaat mit Gewaltmoopol
Dies sind die drei Kernideen des Liberalismus in historisch klassischer Sicht. Viele weitere Denker sind bis heute dabei, diese Gedanken weiter zu spinnen. Sind das noch immer die Kernideen oder haben sie sich überholt?
ad 1. Zur freien Marktwirtschaft heißt die Alternative Planwirtschaft oder in seiner gemäßigten Form Interventionismus. Es gibt kein Drittes dazwischen: Entweder die Einzelnen unternehmenden Menschen entscheiden oder eine staatliche Behörde entscheidet über die Investitionen, die Einkommen und die Preise usw. Nun gibt es niemals eine konkrete Gesellschaftsform, in der diese Extreme absolut und rein ausgeprägt sind. Es geht also praktisch immer um das Mehr oder Weniger. Der Liberalismus ist für mehr Entscheidungsfreiheit der Individuen und für weniger Staat.
ad 2. Zu den Grundrechten gibt es keine andere Alternative als Despotie und Sozialismus, als Willkürherrschaft und Staatseigentum. Der zweite Punkt hängt natürlich eng mit dem ersten zusammen. Ist die Frage heute eine andere als vor zweihundert Jahren? Wohl kaum.
ad 3. Die Alternative zur Herrschaft des Rechts ist die Herrschaft von Menschen über Menschen, von Führern über Untergebene. Auch heute stellt sich die Problematik keineswegs anders. Die Aushöhlung des Rechtsgedankens ist eine immerwährende Gefahr, wo es staatliche oder private Machtkonzentration gibt. Hochaktuell dieser dritte Punkt.
Wir nähern uns nun in dem philosophischen Aspekt des Problems. Der Liberalismus fußt auf Wissenschaft, in erster Linie auf der Ökonomie. Der Liberalismus ist eine Lehre vom Sollen, Wissenschaft lehrt über das Sein. Aus dem Sein lässt sich nicht auf das Sollen schließen. Aus der deskriptiven Wissenschaft bezieht der normative Liberalismus sein Tatsachenwissen. Aus den historischen Kernideen seine Werte.
Wissenschaft ist eine Errungenschaft des rationalen Denkens. (Es musste erst die Idee der Physik durchgesetzt werden, dass sensorisch wahrnehmbare Phänomene strenge Regelmäßigkeiten aufweisen, nicht zufällig und schwankend trügerisch sind, wie die Platonische Schule es vertritt.) Die Anforderungen an Rationalität von Wissenschaft sind:
a) plausible Kategorien als Prämissen, den extra-wissenschaftlichen Anfängen der Untersuchungen
b) klare Definitionen der Begriffe, logische Konsistenz der Schlussfolgerungen
c) Realitätshaltigkeit und eindeutige Bestimmung der Bedingungen, unter denen Sätze Gültigkeit haben
Das Gegenteil, der Irrationalismus, stützt sich auf mystische Prämissen, Intuition der Erkenntnisse und Nichtwiderlegbarkeit. Die Beispiele dafür nehmen wir aus dem Denken von Marx: die „materiellen Produktivkräfte“ als historische Beweger (unplausible Prämissen), den Klassenbegriff in Anlehnung an die feudalistischen Kasten (unklare Definitionen), die Behauptung, dass sich Geschichte ohne bewusstes Handeln der Menschen vollzieht, dass aber eine führende Partei notwendig sei (Inkonsistenzen), die Verelendungstheorie (mangelnde Realitätshaltigkeit).
Eine haltbare Lehre ist nur rational zu konstruieren. Daher bildet die Ökonomie die erste theoretische Grundlage des Liberalismus. Das Verstehen der Geschichte, das Verstehen der Bedingungen des zivilisatorischen Prozesses ist die zweite Grundlage, auf der die Werte basieren.
Ich denke, die drei genannten Kerne des Liberalismus sind einerseits abstrakt genug, um alle Liberalen zu einen, ohne einer offenen suchenden Bewegung eine Orthodoxie überzustülpen, an der sie erstarrt. Kern und Mantel bilden ein zusammenhängendes Begriffspaar. Der Liberalismus liefert ein Ideengut, das sich in der geschichtlichen Entwicklung immer wieder mit anderen Ideologien amalgamiert hat. Daraus entstanden die teilweise feindselig zueinander stehenden Richtungen der Sozial-Liberalen, Konservativ-Liberalen, gar der National-Liberalen u. a. Es wäre viel geholfen, wenn die liberalen Kerne prioritär verstanden würden und nicht die changierenden Mäntel.
Nehmen wir als Beispiel die Familienpolitik. Ist die Schwulenehe aus liberaler Sicht abzulehnen? Schwule und Ehe gilt es zu analysieren. Schwulsein wird heute als Tatsache einer biologischen Variante gesehen, deren Norm die Heterosexualität ist. Es wurde und wird von fundamentalistischen Anhängern religiöser Glaubensgemeinschaften noch heute als Krankheit bzw. als Sünde betrachtet. Nun ist die Frage, ob es sich um eine Krankheit oder eine Variante handelt, eine Frage der Wissenschaft. Dazu hat der Liberalismus nichts beizutragen. Und zur Frage der Ehe als Sakrament haben die Theologen zu sprechen. Die Ehe als gesetzlicher Stand ist ein rechtliches und damit ein liberales Problem. Nach dem Gesichtspunkt der Gleichheit vor dem Gesetz und der größtmöglichen Freiheit der Bürger empfiehlt der Liberalismus, die Lebensweise der Menschen ihrer Selbstbestimmung zu überlassen, insoweit sie auf Freiwilligkeit beruht. Die steuerliche und sonstige gesetzliche Privilegierung von heterosexuellen Ehen verstößt gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Es müssen schon sehr schwerwiegende Gründe vorgetragen werden, um sie zu rechtfertigen. Dennoch können Liberale im Rahmen ihrer persönlichen Lebensführung praktizierende Christen sein. Sie können nur nicht die Vorschriften, die ihr Glauben ihnen auferlegt, anderen auferlegen und sie können nicht – als Liberale – eine religiöse Familienpolitik betreiben. Die Leugnung biologischer Tatsachen im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung ist andererseits von der Wissenschaft zu bekämpfen, deren haltbarste Ergebnisse der Liberalismus sich zunutze macht.
Die Kerngedanken anzuerkennen bedeutet, die Einheit der Liberalen für möglich halten. Das bedeutet, dass auf argumentativer Basis Meinungsverschiedenheiten benannt werden, dass aber der Gesprächspartner als Zugehöriger zur eigenen liberalen Bewegung mit Respekt behandelt wird, wie meiner Meinung nach jeder Bürger behandelt werden sollte. Beschimpfungen und Stigmatisierungen sind ebenso wenig hilfreich wie Sezessionen und öffentliches Zerschneiden von Tischtüchern.