Höhenrausch und tiefer Fall
Wer die Weimarer Republik verstehen möchte, der findet zahlreiche gesellschaftliche Impressionen im Kaleidoskop von Harald Jähner: Höhenrausch. Das umfangreiche Buch ist gut geschrieben und lässt den Leser beginnend mit den heimkehrenden Soldaten in die widerspruchsvolle Zeit nach dem abservierten Kaiserreich eintauchen – eine Zeit voller Auf- und Ausbrüche. Bis zur hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und einem sich ausbreitenden Extremismus in der Endphase schien die Entwicklung trotz Hyperinflation und politischer Belastungen offen zu sein, keineswegs auf ein Drittes Reich zuzulaufen. Die 20er Jahren waren der heutigen Zeit teils ähnlich, teils fremd. LGBT+ gab es schon vor 100 Jahren. Weimar erscheint heute sowohl moderner als auch retardierter und reaktionärer – das ist zumindest der Eindruck, den der langjährige Feuilletonchef der Berliner Zeitung vermittelt, sich dabei (leider) fast ausschließlich auf Berlin beschränkt.
Ob Emanzipation und damit einhergehende Veränderung des Stadtbildes durch Tausende eigenständige, berufstätige Frauen, ob Architektur und Wohnen, Verkehr und schicke Autos, ferner Körperkult und Geschlechterzweifel sowie Mode oder die durch Tanzen bewegte, Konventionen brechende Stadtgesellschaft, ein Gespür für die vielfältigen Strömungen der Zeit kann der Leser rasch gewinnen. So ist der „Gefühlshaushalt der Weimarer Republik“ Gegenstand des Buches, wie Harald Jähner eingangs erläutert. Viele witzige Szenen und humorvolle Sätze sind Teil der „kulturellen Umwälzung“, die zum Ende der Republik an Kraft verlor, als Trend auslief, politischer Führung und Formierung wich. Skurriles, Tragisches, Ausschweifendes gehört dazu, weniger alltäglich-profane Dinge. Der Verkehr erforderte „neue Fähigkeiten räumlichen und dynamischen Sehens“ nicht nur für die neue Gattung der „Selbstfahrer“, darunter „Girldriver“, die sich als „mutige, selbständige Burschen“ gerierten. Für 10 Mark konnte man über die private Autostraße Avus flitzen, die Vierteljahreskarte kostet eintausend Mark, unbezahlbar für die Masse der Menschen.
Lebendig wird die Darstellung durch zahlreiche zitierte Zeitgenossen, darunter Kurt Tucholsky, und Zeitungsberichte sowie Einblicke in das Leben (und Sterben) vieler Persönlichkeiten. Gelungen erscheint mir während und nach der Lektüre der Einstieg mit den zurückkehren Soldaten und Freikorps, angedeutet in der Zwischenüberschrift „Im Felde unbesiegt, aber bezwungen von Frauen“. Die Schilderung wie ein Trupp die belebte Kreuzung Invaliden-Chausseestraße mit einem Maschinengewehr bestreicht erscheint wie eine Szene aus einem Kinofilm und war mit zwölf Toten und über 80 Verletzten doch real, im Dezember 1918 beinahe banal.
Was man aus einem Tanz wie dem Charleston alles herauslesen kann: „Der Charleston war ein ermutigender Tanz. Er feuerte das Ich an und animierte dazu, das eigene Empfinden tänzerisch auszudrücken.“ Und wenige Sätze später: „Vor allem den Frauen kam der Charleston entgegen. Sie mussten sich nicht mehr führen lassen, waren beim Tanzen meist sogar die Aktiveren, Ausgelasseneren.“ Neue Individualität, anderes Körpergefühlt mit veränderter Haltung, neue Geschlechterrollen, Dynamik, Zuversicht, Ausgelassenheit, Amerikanisierung, neues Freizeitverhalten, das sind einige Aspekte.
Fazit: Viele Bilder, auch in Form betrachtenswerter Fotos, weniger Analyse, mehr Beschreibung, im Detail nie langatmig, gleichwohl insgesamt mir zu voluminös, flott und gekonnt feuilletonistisch – unterhaltsam, lehrreich, daher bereichernd.
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Rowohlt Berlin Verlag, 2. Aufl. Berlin 2022, 557 S., 28,00 Euro.