Individuum versus Identität
Individuum versus Identität

Individuum versus Identität

Der einzelne Mensch bildet den Ausgangspunkt liberalen Denkens. Die liberale Weltanschauung unterscheidet sich in dieser einfachen Tatsache von anderen Sichtweisen, Denkschulen und Ideologien.

Das gereicht den Liberalen zum Vorteil und wird ihnen massiv angekreidet. Vorteilhaft ist es dann, wenn Menschen verachtende Herrschaftssysteme, z.B. das SED-Regime und der NS-Staat, kritisiert werden und man sich seiner Liberalität versichert. Als degoutant gilt vielen sowohl der Egoismus des Einzelnen, dann doch lieber altruistisch, als auch das vermeintlich bindungslose, atomistische Individuum.

Das kann sich rasch ändern, sobald eine dringliche Aufgabe identifiziert wird, die es angeblich erforderlich macht, dass der Einzelne nicht mehr zählt, sondern ein Platz an der Sonne für die Nation in den Kolonien und in der ersten Reihe des Abendlandes, zudem die eigene zur Herrschaft über die Welt berufene Rasse, die eine Partei als Avantgarde des Proletariats, das eine ethnisch-nationale Volk, aber auch der zu bekämpfende Terrorismus, der Krieg gegen die Drogen, der Krieg gegen das Virus und das zu rettende Klima sowie der Erhalt des Euro – koste es, was es wolle. Heute ist das Individuum out, außer bei Wettbewerbsshows, Stars und Sternchen, digital und real, und natürlich der Selbstoptimierung orientiert am kollektiven Standard.

Warum gehen Liberale vom Individuum aus? Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Nur und zu allererst ein Mensch handelt. Homo agens! Ein Staat tut das entgegen aller sprachlichen Gewohnheit nicht, genauso wenig wie ein Unternehmen, ein Verein und eine Lobbyorganisation. Nicht die Regierung handelt, sondern ihre Mitglieder sprechen, schreiben, ordnen an, verhandeln.

In historischer Perspektive ist es das Herauslösen des Menschen aus der untertänigen Masse und die Forderung, die Würde eines jeden einzelnen Menschen soll unantastbar sein, unabhängig von seinem Stand, seiner Position in der Gesellschaft und im Herrschaftsgefüge. Mit Individualität und Würde ist für Liberale Gleichwertigkeit verbunden. Ein Mensch wird nicht nach seiner Identität bewertet. Seine Hautfarbe, sein Geschlecht, sein Alter, sein Atheismus oder seine Religion spielen keine Rolle. Der Kollektivismus der angefeindeten alten weißen Männer ist Liberalen zuwider.

Mit dem individuellen Handeln ist das Haften unauflösbar verbunden. Wer handelt, haftet. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, macht etwas aus seinen Talenten, ob allein oder unterstützt von seinen Mitmenschen. Großartige Leistungen werden von einzelnen Menschen errungen, weitaus mehr entspringt der Zusammenarbeit vieler Individuen, ob direkt in einem Team oder anonym in globalen Netzwerken von Forschung, Entwicklung, Produktion, Logistik, Dienstleistung.

Schließlich wissen Liberale, dass der Kollektivismus einer kleinen, tyrannischen Minderheit ungeahnte Möglichkeiten verschafft – einer großen, tyrannischen Mehrheit ebenso. Drohung, Zwang, Repression des Kollektivs stehen argumentieren, überzeugen und Konsens erreichen der Liberalen gegenüber. Am Beispiel der Impfpflicht kann das jeder nachvollziehen, zumal bei Corona ein Ausmerzen der Krankheit anders als bei Polio nicht möglich ist.

Eine Leibeigenschaft der Sache gibt es für Liberale nicht. Darin unterscheiden sie sich von (vielen) Konservativen und allen Sozialisten, ob national, international oder demokratisch.  Liberale reagieren vermutlich deshalb so allergisch gegen Kollektivismen, weil sie wissen wie viel Macht der Kollektivismus über den Einzelnen Menschen verleiht. Und wie sehr Macht korrumpiert. Wer über die richtige Zugehörigkeit, die zeitgemäße Identität besitzt, muss die Guillotine des Wohlfahrtsausschusses nicht fürchten.

Heute, im postliberalen Zeitalter, ist autoritäres Durchregieren angesagt, herrscht die Lust an der Bevormundung. Bloß nicht mit der Meinung anecken, nicht querdenken, vielmehr politisch korrekt konform bleiben. Schüler lernen das früh und werden dafür benotet. Journalismus entwickelt sich vielfach zur Haltung geleitet von der Frage: Gefällt es meinen Lesern? In den sozialen Medien nennt man das Blasen und Echokammern. Eine eigenständige Meinung schätzen Menschen zunehmend bei Sahra Wagenknecht, ausgerechnet. Identitätspolitik von links wird an den Hochschulen praktiziert – Identität herrscht statt Individualität, das Ich ertrinkt im Kollektiv. Und auf nationaler Ebene ist die Einheit der Regeln erwünscht. Bloß kein Flickenteppich, keine Ungleichheit.

Vereinfachungen und Verirrungen sind natürliche Verbündete identitärer Positionen. Freund-Feind-Denken gehört an erster Stelle dazu. Mieter gegen Vermieter, Arme gegen Reiche, Barbarei gegen Kultur, unterdrückte Frauen gegen das Patriarchat. Kollektive Hysterie, die Einfalt der Mächtigen, die sich gerne der Massen bedienen. Klimaleugner. Brachiale Klimapolitik statt differenzierter Anpassungsmaßnahmen. Not kennt kein Gebot.

Das kann Liberalen nicht passieren. Individuelles Handeln, individuelle Freiheit, Individualität wird zur Vielfalt der Vielen. Jeder einzelne Mensch ist das Maß aller Dinge. Der selbständig denkende und handelnde Mensch ist das Leitbild. Nicht der betreute Untertan.

Der Wert der Individualität wird wiederentdeckt werden.