Politiker haben einen drastischen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, schrieb ich 2010. Kaum eine Berufsgruppe ist so schlecht angesehen. Das zeigen demoskopische Untersuchungen. Zugleich haben sich Politiker noch nie so sehr in unser Leben eingemischt wie heute: Von der Durchleuchtung unserer Bankkonten, über das Beleuchtungsverbot für Glühbirnen bis zu Vorschriften und Moralpredigten für eine gesunde, umweltbewusste Lebensweise reicht der lange Arm des Staates, ganz zu schweigen von den unüberschaubaren Vorschriften im Berufs- und Wirtschaftsleben. Inzwischen verursacht die Corona-Politik weitreichendere Eingriffe als je zuvor. 2010 erregten eine Finanzpolitik zu Gunsten von Interessengruppen mit Abwrackprämien, Transferzahlungen für bankrotte Regierungen anderer Staaten und durch Steuerzahler mitfinanzierte Bankerboni die Gemüter. Inzwischen sind Energie-, Migrations-, Umwelt- und Corona-Politik hinzugekommen.
Unverändert gilt: Paradoxerweise richten sich die Hoffnungen der Menschen auf eine Lösung unserer vielfältigen, aufgestauten Probleme durch eben jene als unglaubwürdig angesehenen Politiker mit sehr geringem Berufsprestige. Selten erschallt der Ruf, die Politik soll nicht handeln.
Manch ein Sozialphilosoph würde urteilen: Ein Mensch reift, wenn er aufhört zu glauben, dass Politiker seine oder die Probleme anderer Menschen lösen können. In der Regel ist es das Beste, wenn die Regierung nichts tut. Das lehren Geschichte und Moralphilosophie gleichermaßen. Die Kluft zwischen politischen Absichten und Resultaten ist unüberbrückbar. Bekanntlich sind die Versprechen der Politiker von heute die Steuern und Beschränkungen von morgen.
Ist Glaubwürdigkeit das Problem?
Glaubwürdigkeit bezeichnet das Ausmaß der Bereitschaft, die Aussage einer anderen Person als gültig zu akzeptieren. Synonym verwendet werden Adjektive wie ehrlich, überzeugend, aufrichtig, plausibel, zuverlässig und vertrauenswürdig. Ein Glaubwürdigkeitsproblem könnte in zweierlei Hinsicht bestehen:
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- Die Bürger sind immer weniger bereit, die Aussagen der Politiker als gültig zu akzeptieren.
- Die Aussagen der Politiker erweisen sich immer weniger als gültig.
Aussage 1 steht im Widerspruch zu der verbreiteten Erwartung, die Politik soll die Probleme lösen, die Regierung müsse handeln, der richtige politische Führer werde es richten. Zugleich sorgen neue (soziale) Medien dafür, dass Aussagen von Politikern stärker hinterfragt werden.
Aussage 2 steht im Widerspruch zu einem Merkmal von Politik. Nicht erst seit Adenauer gilt: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern. Impflicht – nein, ja, doch – oh! Das Glaubwürdigkeitsproblem liegt auch bei den Politikern, aber zunächst bei uns selbst. Unsere Forderungen sind unglaubwürdig. Unsere Erwartungen sind unrealistisch. Ein erheblicher Teil der der Bevölkerung lebt nach einer Auffassung, die der französische Publizist Frédéric Bastiat Mitte des 19. Jahrhunderts wie folgt kritisierte: „Der Staat ist die große Fiktion, nach der jedermann glaubt, auf Kosten jedermanns leben zu können.“ Das gilt im Großen wie im Kleinen, auch deshalb ist die Politik heute allzuständig. Zwar nörgeln viele Wähler, aber sie tolerieren die Eingriffe in ihr Leben und sie fordern Eingriffe, deren mittelbare Folgen sie nicht berücksichtigen.
Die sozialen Medien zeigen zudem ein früher auf Stammtische und die Fußballnationalmannschaft beschränktes Phänomen: Meinungen prallen auf einander, werden als bessere Politik dargestellt, gelten als einfache Lösungen für vielfach komplexe Probleme und ignorieren das politisch-bürokratische Umsetzungsproblem. Es ist alles so schön einfach am Schreibtisch. Indes bleibt eine Meinung ein Fürwahrhalten und unterscheidet sich von Wissen, auch im Wollen und Sollen.
Wie viele Menschen fragen sich wohl: Warum sollten Politiker moralischer handeln, stärker das Gemeinwohl verfolgen, weniger Karriere orientiert sein als andere Menschen? Können sie mit Hilfe von Experten über ein überlegenes Wissen verfügen? Unterliegen sie keinen Zwängen und Beschränkungen?
Ist Politik die Lösung?
Der Vorrang der Politik führt dazu, dass der eine, von der Politik vorgegebene Weg beschritten wird und andere nicht beschritten werden dürfen. Das muss nicht so sein, ist aber eine nahe liegende Form des Gestaltens. Das liegt daran, dass Regierungen und Staatsapparate systematisch auf Zwang setzen, um ihre Ziele zu erreichen – anders als Märkte, die auf dem freiwilligen Tausch zu beiderseitigem Vorteil beruhen und die spontane Ordnung, in der niemand alles organisiert und vorschreibt. Leider gilt für Politik viel zu sehr das Freund-Feind-Denken. Hier die guten Geimpften, dort die ungeimpften Sünder. Politik spaltet, vom Berufspolitiker bis zum Privatmann in sozialen Medien. Ziel ist primär die eigene Gruppe, sind die Likes der eigenen Truppe. Stammesdenken liegt uns immer noch nahe. Kritisiert wird der Andere, häufig einäugig, blauäugig, mit dem Balken im Auge. Zu häufig gilt: Urteilen kommt vor Beobachten und Meinungsäußerung ist leichter als Sachverhaltsprüfung.
Entpolitisieren als Alternative?
Wohin führt uns das? Die Lösung kann nicht mehr Politik, sondern nur weniger Politik sein und mehr Selbstverantwortung. Einige Bürger machen von dieser Lösung bereits Gebrauch – durch die drei klassischen Strategien Exit, Voice und Loyalty. Das bedeutet Abwanderung, Protest und Illoyalität, etwa durch Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung, Wahlenthaltung und Bespötteln der Politiker als Teil einer allgemeinen Elitenkritik. Das führt bislang jedoch nicht zu etwas Besserem. Im Gegenteil.
Ein Problem ist die Zentralisierung verbunden mit einer Gleichmacherei: Forderungen nach gleichen Lebensstandards in ganz Europa, gleichen Corona-Vorschriften in ganz Deutschland, gleichen Umweltstandards weltweit. Verloren gehen Vielfalt und Wettbewerb um bessere Lösungen sowie das Bewusstsein, dass es die Bemühungen vieler sind, die unsere Welt besser machen. Die natürliche Ordnung einer Gesellschaft verläuft von unten nach oben – nonzentral. Entscheidungen gehören regelmäßig auf die Gemeindeebene, auf die kleinste Verwaltungseinheit. Regionen stehen im Wettbewerb und spezialisieren sich seit der frühen Industrialisierung.
Völlig unzeitgemäß erscheint heute die zeitlose Botschaft der wahren Liberalen: Die Regierung sollte so klein, dezentral und lokal wie möglich sein. Politik ist zunächst prinzipiell nicht zuständig. Bürger lösen eigenverantwortlich ihre Herausforderungen. Der Staat trägt lediglich dafür Sorge, dass Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen verschiedener Menschen nebeneinander bestehen können. Unzeitgemäß ist das auch deshalb, weil Freiheit anstrengend ist und kein Vollkaskoversprechen enthält. Freiheit muss man ertragen können und Verantwortung tragen. Die erste und wichtigste Adresse für Kritik ist man selbst.