Die reichen Erträge der 33. Tagung des Ausschusses für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften des Vereins für Socialpolitik aus dem Jahr 2012 liegen vor. Eingeleitet mit einem Beitrag von Bertram Schefold „Goethe und die anschauliche Theorie“ über dessen wirtschaftspraktische Leistungen und wirtschaftstheoretische Kenntnisse – Goethe kann als Bindeglied zwischen kameralistischer Tradition und Historismus gelten – befassen sich sechs dogmengeschichtlich bemerkenswerte Beiträge mit Ökonomen um die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, von Roman Köster als Monographie unter dem Titel „Die Wissenschaft der Außenseiter“ behandelt, wird so um weitere Krisenaspekte akzentuiert, erweitert und durch Schilderungen echter Außenseiter bereichert.
Geopolitik
In „Geopolitik und Nationalökonomie vor dem Ersten Weltkrieg. Plädoyer für eine transnationale Geschichte der Wirtschaftswissenschaften“ zeigt Erik Grimmer-Solem passend zum Titel mindestens zwei Dinge auf: Erstens wird das intellektuelle und planerische Ausmaß deutlich, mit dem eine Vielzahl namhafter deutscher Volkswirte im Hauptstrom der Zeit schwimmend Kriegsziele und -strategie ausarbeiteten, darunter Karl Helfferich, Max Sering, Georg Friedrich Knapp und Gustav Schmoller. Letzterer kann exemplarisch für die Geisteshaltung angeführt werden, als er fragte, „ob die Handelspolitik heute oder in künftiger Zeit überhaupt unabhängig von der Machtpolitik und den Machtmitteln der Staaten zu führen sei“. (S. 54) Zweitens wird der internationale, protektionistische, merkantilistische Einfluss und Druck deutlich, der über Großbritannien hinaus nicht zuletzt von den USA ausging. Bemerkenswert ist das Urteil von Erik Grimmer-Solem, der Merkantilismus sei (undifferenziert) unterschätzt und die klassische (Freihandels-) Ökonomie in ihrer Wirkung überschätzt worden. Das 19. Jahrhundert sei durch das Wirken der „Whig-Imperialists“-Positionen und evangelisch-christlicher Ansichten der Mittelschichten, nicht aber durch David Ricardos Freihandelsargumente beeinflusst worden mit dem Ergebnis eines „’freihändlerischen Imperialismus’“. (S. 70) Ob das den Schluss zulässt, eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung sei entsprechend der historischen Tatsachen letztlich nur durch eine Staatspolitik möglich, bleibt fragwürdig. Gute Argumente sprechen dafür, dass trotz derartiger Interventionen der wirtschaftliche Aufstieg gelang. Das entzieht der berechtigten Kritik an Politikempfehlungen internationaler Organisationen wie Weltbank, IWF und WTO nicht die Grundlage.
Sozialpolitik
Das Ausmaß der Krise in der deutschen Nationalökonomie zeigt Hauke Janssen anhand der Konflikte in der Sozialpolitik, Wertlehre und Konjunkturforschung auf. Im Ausland war der Übergang zur Neoklassik mit der subjektiven Wertlehre längst vollzogen worden als man in Deutschland noch „Begriffsökonomie“ betrieb. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts leisteten deutsche Ökonomen keine Fortschritte in der Konjunkturtheorie, die erst in der Zeit um den Ersten Weltkrieg zu einer „Modewissenschaft“ (Adolf Löwe) wurde, während sich die Betrachtung von Unterkonsumptions- zu Überinvestitionstheorien insbesondere durch den Einfluss von Spiethoff, Sombart und Schumpeter verschob. Die knapp skizzierte „österreichische“ Konjunkturtheorie (S. 102) ist eigentlich eine Fehlinvestitionstheorie.
Besetzungspolitik
Wie man eine renommierte wirtschaftswissenschaftliche Institution in die Krise führen und den Niedergang bereiten kann, zeigt Hansjörg Klausinger am Beispiel der Nationalökonomie an der Wiener Universität. Alle namhaften Ökonomen der dritten und vierten Generation der Österreichischen Schule wirkten außerhalb der Universität und im (angelsächsischen) Ausland. Der durch Originaldokumente quellengesättigte Beitrag schildert die dramatisch schlechte Neubesetzung aller drei nationalökonomischer Lehrstühle zwischen 1917 und 1927. Othmar Spann vertrat seinen Universalismus und verlegte sich auf Gesellschaftslehre. Hans Mayer war ein ineffizienter, unzuverlässiger Wissenschaftler, dessen Hochschulpolitik die Forschung überlagerte – beide lagen bald im lähmenden Streit miteinander. Carl Grünberg war ein Begründer des Austromarxismus, Historiker und ein Außenseiter. Der rasch zunehmende Antisemitismus an der Fakultät verschlechterte die wissenschaftliche Qualität zusätzlich. Interessanterweise lässt sich aus der Fakultätsgeschichte ableiten, dass Ludwig von Mises aus zweierlei Gründen keinen Lehrstuhl bekam, die seiner Anhängerschaft wenig bekannt sein dürften: Erstens reichte sein Publikationsrenommee zum Zeitpunkt der Aufnahme des ersten Berufungsverfahren 1917/18 und des zweiten im Juni 1922 noch nicht aus. Gegen den Grazer Ordinarius Hans Mayer hatte er 1922/23 keine Chance wie auch das in diesem Sinne verfasste Gutachten von Friedrich Wieser dokumentiert. Max Weber hatte sich im Zuge des ersten Verfahrens im April 1918 zwar positiv zu Mises geäußert – neben Alfred Amonn; er zog aber Josef Schumpeter eindeutig vor. Hinzu kommt zweitens die wirtschaftswissenschaftliche Außenseiterposition, die Mises mit seinem konsequenten, auch als „radikal“ bezeichneten individualistischen Liberalismus vertrat, zumal seine Habilitation zur Geldthematik eher als (zudem umstrittenes) Spezialistenthema angesehen wurde. Ohne Führsprecher im Establishment sind auch universitäre Posten nicht zu bekommen. Indes hatte Mises mit seinem einflussreichen Posten als Leitender Sekretär in der Wiener Handelskammer eine insbesondere wirtschaftspolitisch günstige Stellung inne. Sein Privatseminar machte ihn zur Leitfigur der außeruniversitären Österreichischen Schule. Eigentlich kein Grund zur Verbitterung.
Wirtschaftspolitik
Den Verfechter (s)einer Organisationswirtschaft Walther Rathenau untersucht Günther Chaloupek als Ökonom und nachrangiger als Sozialphilosoph. Deutlich wird die Inkonsistenz der Äußerungen, die der Theorie geringschätzende Praktiker Rathenau in seinen zahlreichen Beiträgen zur Reorganisation der industriellen Produktionsstrukturen ausbreitet. Der Vorwurf von sozialistischer Seite, es handele sich um ein „System des staatlich gebundenen Privatkapitalismus“ traf genauso ins Mark wie die liberale Kritik eines machtvollkommenen Großkapitals, das das deutsche Volk beherrschen würde. Rathenaus postulierten Dualismus von „Seele“ und „Instinkt“ ordnet Chaloupek erhellend einerseits der englischen Bloomsbury Gruppe und Oskar Wilde sowie der deutschen Denktradition einer staatlich vorgegebenen Sozialmoral des Gemeinschaftsgeistes zu. Der italienische Faschismus wäre geeignet gewesen, um Rathenaus Überlegungen zumindest anteilig zu realisieren, wenn dieser auch bis zu seiner frühen Ermordung Demokrat blieb. Walther Rathenau kann als zeitloses Negativbeispiel für die undifferenzierte Verwechselung von Marktwirtschaft mit Konzernen sowie für die dramatischen Folgen dienen, die der Einfluss von Unternehmensberatern auf die Wirtschaftspolitik haben kann.
Außenseiterpolitik
Einen geradezu fesselnden biographischen Beitrag über den weithin unbekannten Ökonomen Oskar Stillich fügt Toni Pierenkemper bei. Stillich lehrte bereits mit 26 Jahren (1898) für fast fünf Jahrzehnte an der Berliner Volkshochschule (zuvor Humboldt-Akademie). Seine äußerst rege Publikationstätigkeit erstreckte sich von der Analyse der europäischen Agrarkrise und der elenden Lage der Beschäftigten in der deutschen Hausindustrie über Arbeiten zur Großindustrie und dem Forschungsgebiet des Geld-, Bank- und Börsenwesens sowie bereits 1908 zur Konjunkturtheorie. Hinzu kamen wissenschaftliche Beiträge zur Politik (insbesondere Frieden und Völkerverständigung). Im Leben des marxistisch inspirierten, pazifistischen Ökonomen mangelte es nicht an Dramatik, deren Tiefpunkt eine Intrige an der Hochschule und sein Hungertod im Alter von 74 Jahren Ende 1945 bildeten
Nur erwähnt werden können der Beitrag von Christian Gehrke über das abenteuerliche Leben des russischen Emigranten und profunden Marx-Kritiker Georg von Charasoff und der von Bertram Schefold verfasste Nachruf auf den japanischen Gelehrten Noboru Kobayashi.
Michael von Prollius
Hans-Michael Trautwein (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXX. Die Zeit um den Ersten Weltkrieg als Krisenzeit der Ökonomen. (Schriften des Vereins für Socialpolitik N.F. Bd. 115/XXX), Duncker & Humblot, Berlin 2016, 340 S., 109,90 Euro.