(mvp) Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was ein gutes Leben ausmacht, gibt es vermutlich fast so lange, wie Menschen auf der Erde leben, zumindest aber seit dem Beginn der Zivilisation im Alten Orient. Das Problem ist weniger der Streit als vielmehr die heute grassierende Einmischung des Staates, der für die Verfechter bestimmter Lebensweisen Partei ergreift. Diese Paternalisierung des Lebens haben die beiden Heidelberger Wissenschaftler und Gründer des John Stuart Mill Instituts im Rahmen eines Forschungsprojekts untersucht und in einem perspektivenreichen, patchworkartigen Band dokumentiert. 14 Beiträge von Publizisten, Wissenschaftlern und Journalisten beleuchten grundlegende Fragen und exemplarische Themen, die sich mit dem Genuss und seiner moralischen Beschränkung befassen. Herausgepickt: Wer ein gutes Leben mit exklusiven Bio-Lebensmitteln für alle durchsetzen möchte, grenzt Menschen aus, die sich das vermeintlich Selbstverständliche nicht leisten können oder gute Gründe haben, das Gute als tatsächlich gut anzuerkennen. Der Freiheitsindex des John Stuart Mill Instituts illustriert, dass Menschen aus Sicherheitsgründen Verbote allzugern befürworten. Zucker hat als Genussmittel und Energielieferant einen Aufstieg und Abstieg erlebt. Askese, „Degrowth“, Genuss als Gefahr, Fortschrittsskepsis sind gesellschaftspolitisch tonangebend.
Wenn Essen zum Religionsersatz geworden ist, wofür manche Äußerungen kulinarischer Moralapostel sprechen (Orthorexie ist die manische Beschäftigung mit gesundem Essen), dann lautet das Gebot der Stunde erneut: Trennung von Staat und Religion.
Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt (Hg.): Genuss – Askese – Moral. Über die Paternalisierung des guten Lebens, Humanities Online, Frankfurt am Main 2016, 163 S., 19,80 Euro.