Literarische Lebenslehren
Literarische Lebenslehren

Literarische Lebenslehren

Literarische Lehren, die dem Leben entspringen, anekdotisch verpackt. Das enthält das Kompendium von 20 Briefen, die der fiktive Geschäftsmann John Graham an seinen Sohn Pierrepont schickt. Vom Eintritt in das Studium bis zur anstehenden Hochzeit schickt der besorgte Vater Ratschläge und gibt seinem Sohn Orientierungshilfe, zumal Pierrepont in seinem Unternehmen, der Fleisch produzierenden Union Stock Yards in Chicago, in den 1890er Jahren allmählich aufsteigt.

Die Lehren, die der Vater seinem Sohn mittels (bemerkenswert später) brieflicher Erziehung nahebringt, entspringen dem Leben. Sie scheinen aus Erfahrung geboren zu sein, allerdings aus einem schriftstellerischen Leben, nicht aus dem eines echten Geschäftsmannes. Tatsächlich war der Autor der fiktiven Briefe, George Horace Lorimer, Journalist und Pubilizist. Er wurde 1867 in Louisville, Kentucky geboren und arbeitete ab 1899 als Chefredakteur einer Zeitung.

Dementsprechend anekdotisch, ab der Mitte des Buches etwas ermüdend, weil weitschweifig und stets nach demselben Muster, fallen die Geschichten aus. Die zunächst amüsanten Illustrationen von Lehren wie: „Habe etwas zu sagen. Sage es. Schweige.“ und „Bildung ist so ungefähr das Einzige, das offen auf der Straße liegt, und das Einzige, von dem man so viel haben kann, wie man bereit ist, sich anzueignen.“ erdrücken allmählich die Botschaften. Was zunächst als zeitloser Ratgeber erscheint, nimmt die Form einer Geschichtensammlung an, für die die Lehren nur als Stichwortgeber dienen. Das steht im Gegensatz zu einer treffenden Erkenntnis von John Graham: Es gibt Männer die viel erzählen, anstatt zu denken.

Gleichwohl sind insbesondere das erste Drittel und der Schluss gleichermaßen unterhaltsam wie inspirierend. Viele Botschaften erscheinen zeitlos bedenkenswert, darunter die Lehre: gute Geistige Gewohnheiten und gesunde körperliche Gepflogenheiten zu verbinden. An Humboldt erinnert: „Das Erste das Erziehung einem Mann vermitteln sollte, ist Charakter, und das Zweite ist Bildung.“ Zu den vielen humorvollen Einsichten gehören diese beiden: „Die Universität mach aus Männern keine Narren; sie bringt sie nur zur Geltung. Sie macht Männer nicht zu intelligenten Lebewesen; sie bringt sie nur hervor.“

Schließlich spricht aus den Briefen ein Mensch mit Charakter und Werten. Immer wieder geht es um Maß und Mitte, um aufrechtes und anständiges Arbeiten sowie um die Übernahme von Verantwortung. Die väterlichen Verhaltensregeln lassen sich als Kompass für ein gutes, erfolgreiches Leben durch zielstrebige, harte Arbeit verstehen: „Vorsicherschieben ist ein sehr langes Wort; machen hat nur ein Drittel so viel Buchstaben.“ In unserer schnelllebigen Welt lässt sich beherzigen: „Das Leben ist kein Spurt, sondern ein langer, stetiger Aufstieg.“ Mit Werten ist es indes oft so eine Sache. Wollen und Wirken passen nicht immer zusammen. Das fällt hier auf, wenn Außenwirkung und subalternes Verhalten gepriesen werden.

Letztlich kommt es auf den Leser selbst an. Der wird bekanntlich nicht durch die Lektüre, sondern das Nachdenken klüger. Darauf wies insbesondere der amerikanische Publizist Henry Hazlitt (1894-1993) hin, der zu Beginn seiner Karriere mit „Thinking as a Science“ (Erstauflage 1916) und „The Way to Willpower“ (1922) einsichtsreiche Ratgeber schrieb.
Michael von Prollius
Literatur: George Horace Lorimer: Briefe eines erfolgreichen Kaufmanns an seinen Sohn, Finanzbuch Verlag, München 2018, 216 S., 14,99 Euro (Hardcover).