Ich möchte an dieser Stelle eine Zwischenbilanz ziehen und das Thema Kritik des Anarchokapitalismus vorläufig abschließen.
Nach der produktiv-kritischen Diskussion mit Stefan Blankertz, und unter Berücksichtigung einiger übriger Kommentare, komme ich zu folgenden Schlüssen:
- Die Minimalstaatsidee sieht sich permanenten, unaufhörlichen Ausdehnungsbemühungen ausgesetzt. Es scheint schwer, den Staat zu zähmen. Indes ist das nicht unmöglich wie erfolgreiche Reformen andeuten, ob nach dem nationalen Sozialismus die soziale Marktwirtschaft Erhards, nach dem britischen Sozialismus die Reformen der Thatcher Ära, ferner die Rogernomics in Neuseeland, Chinas gigantischer Sprung in die Marktwirtschaft oder liberale Reformen und Reformansätze in Südamerika und Nordamerika. Indes kommt es für Minarchisten darauf an, das Instrumentarium dazulegen und zu schärfen, das den ausufernden Bürokratismus, Zentralismus und Wohlfühletatismus Fesseln anlegt. Einer Kultur der Freiheit und einem Recht der Freiheit dürfte dabei als doppelte Freiheitsinfrastruktur zentrale Bedeutung zukommen.
- Die Anarchokapitalisten stehen vor der Herausforderung, Lösungen für zentrale Fragen einer Gesellschaft zu entwickeln. Die bisherigen Ansätze sind außerhalb anarchistischer Kreise unattraktiv, weil sie keine Antworten auf die Frage liefern, wie Sicherheit geschaffen werden soll und wer öffentliche Aufgaben übernimmt, jenseits eines augenfälligen Privatisierungspotenzials. Das gilt insbesondere für das Thema Sicherheit, weil Gewalt kein Gut wie jedes andere ist und Sicherheitsunternehmen einen Etikettenschwindel darstellen. Es handelt sich (bald) um private Monopolisten, die sich nicht substanziell vom Staat unterscheiden und aus denen aller Erfahrung nach, Staaten werden. Die Problematik scheint mir abgesehen vom Gewalt- und Herrschaftsphänomen des Homo sapiens in einer Fehldiagnose zu bestehen: In der Annahme, der Staat sei eine von der Gesellschaft trennbare, ihr gleichsam aufgepfropfte Institution und damit ein identifizierbarer, isolierbarer Fremdkörper. Diese Trennung ist m.E. nicht haltbar. Weshalb auch die Vorstellung, Staatsangehörige seien Herrscher, die übrige Bevölkerung Beherrschte nicht zutrifft. Der Sachbearbeiter auf dem Sozialamt und der Finanzbeamte, aber auch ein Kulturattachee sind keine Herrscher und leben und arbeiten auch nicht von der Gesellschaft getrennt.
- Was die Diskussion selbst betrifft, freue ich mich über sachliche und faktenbasierte Argumentationen. Gerade die Online-Diskussionen neigen aufgrund von Anonymität und leicht entstehenden Missverständnissen zur emotionalen, konflikthaften Aufladung. Ich gestehe gerne zu, dass das beiden Seiten zuzuschreiben ist. Und weil das so ist, kann ich nicht akzeptieren, dass mit Unterstellungen, aus dem Kontext gerissene Fragmente und mit Pöbeleien gearbeitet wird. Außerdem: Individualistischer als Anarchokapitalisten, das scheint kaum möglich zu sein. Und dennoch kommen kollektivistische Muster zum Tragen, keine Psychologie der Massen, aber der Menge – der pawlowsche Bell- und Beißreflex auf bestimmt Begriffe und angenommene oder unterstellte Positionen. Das sind die Anti-Staazi-Sätzchen, die Helmut Krebs und ich im „Mythos“ kritisiert haben.
Für eine konstruktive Debatte, vielleicht in Bamberg, stehe ich zur Verfügung. Bis dahin biete ich etwas Futter an, einen Ausblick in Form eines Rückblicks. Der nachfolgende „eigentümlich frei“ Artikel, den ich heute wieder entdeckt habe, ist zwar mehr als zehn Jahre alt. Nicht jede Aussage würde ich heute genauso formulieren, der Wohlfahrtsstaat ist kein moderner Sozialismus, den strebt heute praktisch niemand mehr an, aber meine Hoppe-Kritik passt nach wie vor.
Hoppe-Kontroverse
Die ungestellte Machtfrage
Hayek versus Hoppe. Freiheit bedarf der rechtlichen Verankerung.
von Michael von Prollius
Hans-Hermann Hoppe stellt die Systemfrage. Deshalb würde man den Querdenker in Deutschland aller Voraussicht nach im Zuge einer Political-correctness-Debatte zunächst verleumden, dann ächten und schließlich aus dem Verkehr ziehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Systemfrage den Kern des bundesdeutschen Stillstandes trifft: die bürokratische Macht.
Die Stärke der Hoppeschen Demokratiekritik liegt in der Krisendiagnose. Zweifellos sind wir dem Nationalökonomen aus dem Spielerparadies Las Vegas zu Dank verpflichtet. Die Lektüre seiner Abrechnung mit Demokratie und Wohlfahrtsstaat ist ein Gewinn: so radikal, klar und verständlich lässt sich derzeit keine systematische Kritik an überbordender Bürokratie und Behördenmacht an anderer Stelle lesen. Der Wohlfahrtsstaat wird als das enttarnt, was er ist, eine Mutation des Sozialismus. Während sich die Interventionsspirale der Bürokraten immer weiter dreht, wird das Strukturmuster aberwitziger Politikdebatten offen sichtlich: Umverteilung statt Problemlösung oder mit den Worten von Wilhelm Röpke: Raub durch Stimmzettel. Die Politik – und infolgedessen der Staat mit seiner immanenten, bürokratischen Expansionsdynamik – ist das Problem. Aber ist die Ausschaltung der Politik respektive des Staates die Lösung?
Zweifel an Hoppes Demokratiekritik
Die Wucht der Kritik des deutsch-amerikanischen Volkswirtschaftlers richtet sich auf die Demokratie. Mit der prägnanten Formel „Der Gott, der keiner ist“ demaskiert er die Demokatie-Ideologen; zum Vorschein kommen Missionare, die jenseits der Demokratie kein Heil kennen. Tatsächlich ist die Demokratie mit Vernunft betrachtet kein Wert an sich. Schon gar nicht verkörpert sie das Gute, wie bereits 1960 der Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek in seiner „Verfassung der Freiheit“ plausibel begründet hat. Vielmehr ist Demokratie eine Staatsform, ein Verfahren, bei dem, wie es der österreichische Nobelpreisträger formulierte, es einfach „billiger ist, die Stimmen zu zählen, als zu kämpfen“.
Gleichwohl gilt Churchills Diktum, nach der die Demokratie die schlechteste aller Staatsformen ist, abgesehen von allen anderen. Insofern erscheint die Entzauberung der Demokratie für eine echte Reformdebatte zwar angebracht; jedoch gerät Hans-Hermann Hoppe mit seiner fundamentalistischen Demokratiekritik in dreierlei Hinsicht ins Abseits: Erstens wird seine Entzauberung der Demokratie durch die gleichzeitige Bevorzugung von Monarchie und scheinbar „natürlicher Ordnung“ entwertet. Zweitens gerät dadurch die eigentliche Ursache der aktuellen Missstände bundesdeutscher respektive westlicher Demokratien aus dem Blick – und mit ihr die Therapiemöglichkeiten; die Bedeutung allgemeiner, durchsetzbarer Regeln und die Existenz von Macht blendet der Exil-Libertäre Hoppe einfach aus. Infolgedessen schießt Hoppe drittens mit seiner anarcho-kapitalistischen Utopie am gemeinsamen Ziel der Liberalen und Libertären vorbei: dem Primat der Freiheit. Zusammengenommen hat die doktrinäre Postulierung einer vorgeblich „natürlichen Ordnung“ gestützt allein auf Privateigentum und Vertragsfreiheit ungewollt weit reichende Folgen: die Bedrohung der Freiheit.
Freiheit bedarf rechtlicher Absicherung
Freiheit, verstanden als Abwesenheit von Beschränkung und Zwang, und Gleichheit, verstanden (nur!) als Gleichheit vor dem Gesetz, machen die Demokratie zu einem erstrebenswerten Verfahren! Bei allen nur zu offensichtlichen aktuellen Demokratiedefiziten (Beschneidung Meinungsfreiheit/ Political correctness, Verregelung des Individuums, oligarchische Zirkel und monopolisierte Macht, überbordende Steuer- und Abgabenlast, Ungerechtigkeit und Ungleichheit durch den Versuch, materielle Gleichheit herzustellen, Erstarrung etc.) kann die Demokratie als Staatsform keineswegs als „historischer Fehlschlag“ per se abgelehnt werden wie Hans-Hermann Hoppe dies tut. Schließlich haben wir schon freiheitlichere Zeiten erlebt. Vielmehr ist die zunehmend falsche Ausgestaltung der sie konstituierenden Regeln zu kritisieren. Konsequent wäre es, permanent auf die Verbesserung der Regeln hinzuwirken. Margret Thatcher und Ronald Reagan stehen für angelsächsische (Teil)Erfolge. Mahner wie Lord Dahrendorf weisen seit Jahren auf die mangelnde Kontrolle demokratischer Institutionen, den Niedergang der Parlamente als Orte der Entscheidung und den Ausschluss der Bürger von zentralen Entscheidungen über das Gemeinwesen hin. Leider ist Entbürokratisierung in Deutschland nach wie vor eine Worthülse.
Die von den Neosozialisten unterstützte Wucherung des Wohlfahrtsstaates schränkt die Handlungsspielräume der Menschen durch bürokratische Regelungsgeflechte massiv ein. Um mit John Locke zu sprechen, ist es nun aber gerade nicht Ziel des Gesetzes, die Freiheit abzuschaffen, sondern, um mit von Hayek fortzufahren, die Freiheit überhaupt erst zu ermöglichen. Deutschland kann sich dazu auf beachtenswerte Konzepte der Ordoliberalen Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke und die Politik Ludwig Erhards in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland besinnen.
Monarchie ist keine Alternative
Hoppes Alternativen zur Demokratie können nicht überzeugen. Unglaubwürdig ist der Deutsch-Amerikaner etwa bei seiner Lobpreisung der Monarchie. Der selbst ernannte Geschichtsrevisionist hätte bei empirischer, sprich historischer Überprüfung feststellen müssen, dass sich real existierende Monarchien bisher als höchst defizitäre Ordnung erwiesen haben. Vor allem die Abwesenheit eines Schutzes vor der Willkür und Unfähigkeit degenerierter Deppen und Despoten lassen im historischen Vergleich die Monarchie strukturell keineswegs als vorteilhaftere Konstruktion erscheinen. Wer möchte heute schon ernsthaft von dem letzten deutschen Kaiser Wilhelm II., dem römischen Kaiser Caligula oder dem französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. oder deren modernen Pendants regiert werden? Man muss nicht so weit gehen, wie Karl Popper, der Freiheit und Gleichheit allein in einer Demokratie gewährleistet sieht. Aber begründete Zweifel kommen auf, wenn die persönliche Lebenssituation vom Treueverhältnis (Lehnsherr – Vasall) eines durch Erbe in die Führungsspitze gelangten Staatsführers abhängt, der sich zu allem Überfluss nicht abwählen lässt.
Voraussetzung der Marktwirtschaft ist der Staat
Die „natürliche Ordnung“ Hoppes krankt an dem Irrglauben, dass private Verträge und damit Märkte in der Lage sind, sämtliche Aufgaben eines Staates zu ersetzen. Zwar sollte marktlichen Lösungen stets der Vorrang eingeräumt werden, aber äußere und innere Sicherheit lassen sich eben nicht mittels Fehderecht und marodierenden Söldnerheeren, sondern nur auf der Grundlage eines allgemeinen Landfriedens, gestützt auf ein Machtmonopol gewährleisten. Der Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit belegt diesen Zivilisationsfortschritt eindrucksvoll.
Zudem muss der Staat in einer Demokratie nicht zwangsläufig ein Moloch sein. So hat der hier bereits mehrfach hervorgehobene Nationalökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek in seiner „Verfassung der Freiheit“ allgemein gültige Regeln für eine freiheitlich geordnete Gliederung einer Gesellschaft entwickelt, die sich durchaus mit demokratischen Verfahrensweisen verknüpfen lassen, und deren Durchsetzung wirkungsvoller in einer demokratischen als in einer monarchischen oder anarchistischen Ordnung sichergestellt werden kann. Hoppes Kriterien Privateigentum und Vertragsfreiheit reichen nicht aus.
Eine funktionierende Marktwirtschaft setzt Staatstätigkeit voraus. An erster Stelle steht das Setzen und Durchsetzen allgemeiner Regeln. Darüber hinaus aber tragen von Hayek zufolge Staatstätigkeiten wie die Errichtung eines Geldsystems, die Normierung von Gewichten und Maßen, die Bereitstellung allgemeiner Informationen (Statistiken), Gesundheitsdienste, Gemeindeverwaltungen eventuell auch die Unterstützung, nicht aber Durchführung der Schulausbildung eine freiheitliche Grundordnung. Kurzum, nicht das Ausmaß vielmehr die Art der Staatstätigkeit ist das entscheidende Kriterium.
Freiheit vom und im Staat
Das liegt nicht zuletzt am Phänomen der Politischen Prozesse, also dem Gezerre hinter und vor den Kulissen um Einfluss und Macht. Die Ballung staatlicher und privater Macht ist allgegenwärtig, wird vom Anarchisten Hoppe freilich ausgeblendet. Nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor Interessengruppen, Lobbyisten und Pressure Groups sowie den üblichen Verdächtigen in Quasi-Monopolen wie Gewerkschaften, Verbänden oder gesetzlichen Krankenversicherungen müssen die Bürger geschützt werden. Freiheit vom Staat muss um Freiheit im Staat ergänzt werden. Konzepte für eine Neuorganisation der Legislative und Exekutive liegen vor. Doch wer soll dafür in der Anarchie sorgen? Ist die Durchsetzung des Rechts nicht gewährleistet lautet die Gefahr: die Stärke des Rechts wird durch das Recht des Stärkeren ersetzt.
Der Untergang des Abendlandes
Wenn Hoppe davon spricht, dass die Demokratie zum Untergang bestimmt ist, sitzt er dem Historizismus hegelianischer Weltgeistideen auf, streitet er mit der Annahme eines Geschichtsdeterminismus die Existenz einer freien, evolutiven Ordnung und Entwicklung ab. Mit der Kennzeichnung des Übergangs von der Monarchie zur Demokratie als „zivilisatorischer Verfall“ entpuppt sich Hans-Hermann Hoppe überraschender Weise als Anhänger Oswald Spenglers und eines „Untergang des Abendlandes“. Auf diese Weise entmutigt er Reformer und ermuntert Revolutionäre. Ein gefährliches Spiel mit ungewissem Ausgang, wie die Geschichte gezeigt hat.
Wider die Ökonomisierung
Schließlich haftet Hoppes Utopie mit der Fokussierung und Überhöhung des Privateigentums etwas Knabenhaftes an. Man muss nicht mit dem Marxisten Erich Fromm einer Meinung sein, der mit guten Gründen in seinem Lebenswerk „Haben oder Sein“ die Frage nach dem Sinn unseres Lebens eben nicht in persönlichem Eigentum begründet sieht, sondern jenseits des Habens im Sein mit kontemplativen Elementen, tieferem Wissen, Freude und Einssein mit sich selbst und der Natur. Gleichwohl leistet die einseitige Ausrichtung des Lebens auf den Besitz – mein Haus, mein Boot, mein Auto – einer Ökonomisierung Vorschub. Die Ausrichtung der Gesellschaft an wirtschaftlichen Maßstäben droht bereits aktuell einen Primat der Wirtschaft zu generieren, der dem Allmachtsanspruch der Kirche im Mittelalter gleicht. Wenn demnächst ökonomische Ablassbriefe verkauft werden, wer leitet dann die postmoderne Reformation ein? Vielleicht wird eine libertäre CD-ROM an der Konzernzentrale eines multinationalen Unternehmens festgenagelt und in virtueller Form auf der Homepage eines Ministeriums ein entsprechend eigentümlich freies Thesenpapier angebracht.
Wissen als Quelle der Zivilisation
Freiheit im umfassenden Sinne als Abwesenheit von Zwang und Beschränkung, gesichert durch allgemeine, für alle Bewohner eines Staates gleichermaßen gültige, also ausnahmslose, Regeln erscheint mir wertvoller als die verengte Perspektive des Primats von Privateigentum und freiwilligen Verträgen. Ganz im Sinne von Hayeks sollte Wissen, nicht Eigentum, der Gradmesser der Evolution und des Fortschritts sein.
In der Marktwirtschaft ist das Wissen der Motor. In einer freiheitlichen Ordnung geht das Wissen in maximalem Ausmaß ein; vor allem deshalb ist dieses System so überlegen, so einzigartig leistungsfähig. Nicht das Privateigentum, sondern das Wissen ist die Quelle menschlicher Zivilisation. Für die Weiterentwicklung und allgemeine Nutzung von Wissen ist Privateigentum lediglich eine, wenn auch unerlässliche Voraussetzung. Zudem ist es ein ungeheurer Zivilisationsfortschritt, dass auch Menschen ohne Eigentum Freiheit genießen können! Denn Freiheit bedeutet allgemeine Handlungsfreiheit, und darf nicht als wirtschaftliche Freiheit missverstanden werden, auch wenn es keine politische Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit geben kann. Für die Entwicklung einer freien Gesellschaft bedarf es also einer Verfassung der Freiheit, keine regellose Ordnung.
Insofern muss sich in der aktuellen Reform zwar vieles an dem Kriterium der Entstaatlichung, verstanden als Rückgabe der Freiheit an die Bürger Deutschlands messen, aber primäres Ziel muss die Wiedererlangung und Verankerung der Freiheit sein. Hier bleibt Hoppe hinter Hayek zurück. Gleichwohl haben beide nachgewiesen, dass der Wohlfahrtsstaat zwangsläufig ein Weg in die Knechtschaft ist. Daher die Empfehlung: Hoppe und Hayek lesen, um der Freiheit zwei Stimmen zu verleihen!