Mir wurde das Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“ des Soziologen Armin Nassehi empfohlen. Ich mag es nicht, gar nicht. Ich finde nicht Neues darin. Und das als Anhänger des Liberalismus, dem Nassehi mangels Gesellschaftstheorie nichts abgewinnen kann. Für mich klingt es indes so, als möchte er doch gerne eine liberale neue Sicht auf die Gesellschaft vertreten. Linke und rechte Beschreibungen der Realität hält er zu recht für unterkomplex. Überhaupt ist Komplexität und Perspektivenvielfalt ihm ein Anliegen. Bereits vor mehr als einem Dutzend Jahre hat indes beispielsweise ein sozialwissenschaftlicher Kollege, Bernhard von Mutius, diese Vielfalt in den Blick genommen und mit einem instruktiven Kreisdiagramm das Denken von gestern und morgen abgebildet (in: Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden). Komplexität steht im Zentrum liberalen Denkens seit Jahrhunderten: Kosmos – spontane Ordnung – der Marktprozess als Koordinationsmechanismus, um nur drei Begriffe zu nennen.
Ich überlege noch, warum ich das Buch noch nicht mag. Vielleicht wegen der Sprache: „Warum dezentriert die Heliozentrik die Welt?“. Vielleicht wegen der abgestandenen Ansichten zum „fairen Preis“, zur Verbrauchermacht als angeblicher Kapitalismuskritik. Sicherlich wegen der schwammigen Abgrenzung von links und rechts. Vielleicht, weil es für mich einen progressiv-mainstreamigen Duktus hat. Nein, es ist im Kern wohl eine 300 Seiten lange paradoxe Standpunktlosigkeit: Einerseits taugen links, rechts, liberal nicht für eine Realitätsbeschreibung, Nassehi vertritt aber für mich einen links-liberalen Standpunkt. Andererseits schließt Perspektivenvielfalt weder einen Standpunkt noch Abgrenzungen aus. Systemtheoretisch formuliert: Eine Organisation ohne Grenzen löst sich in der Umwelt auf.