Geschichten und Philosophie – verbunden, um das Beste aus dem Leben zu machen. Das gilt weniger in praktischer Hinsicht als für tiefe Lektüreeinsichten. Der Autor Michael Köhlmeier erzählt gekonnt und auf das Wesentliche komprimiert 12 antike Sagen, moderne Märchen und Geschichten, die jeweils anschließend vom Philosophen Konrad Paul Liessmann facettenreich und tiefschürfend eingeordnet, erläutert und gedeutet werden.
Der aufmerksame Leser findet Antworten auf Grundfragen unseres Lebens, darunter auch seine ganz persönlichen.Die kongenialen Texte sind unter 12 Substantiven versammelt: Neugier, Arbeit, Gewalt, Rache, Lust, Geheimnis, Ich, Schönheit, Meisterschaft, Macht, Grenze, Schicksal. Die Autoren reduzieren mit den Ein-Wort-Überschriften wohltuend die deutungsreichen Geschichten, darunter das Roma-Märchen „Der Mond“ im Kapitel „Geheimnis“. Schließlich eröffnen sowohl die Geschichten als auch die Erläuterungen eine Fülle von Einsichten. Geheimnisse lassen sich beispielsweise im Spannungsfeld von Transparenz und totaler Kontrolle verorten, das durch Vertrauen aufgelöst werden kann.
Eine andere Lehre lautet: Die Spannung gilt es auszuhalten statt an ihre Stelle Eindeutigkeit zu setzen. Zahlreiche aktuelle Bezüge drängen sich dem Leser auf, hier die Überwachung des öffentlichen und privaten Raums sowie die Befugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten aufgrund terroristischer Aktivitäten.
Eine Lehre der Vertreibung aus dem Paradies könnte lauten: Der Preis der Freiheit ist die Erkenntnis und das Ende des naiven Lebens im Schlaraffenland. Eine andere: Recht tritt in zivilisierten Gesellschaften an die Stelle von Rache. Zugleich ist Recht kaum ein objektiver Tatbestand, sondern praktisch regelmäßig politisiert.
Auch didaktische Richtigstellungen des heutigen Bildungsunwesens fehlen nicht. Das ist eine ausgewiesene Stärke von Liesmann, der Meister, die Meisterschaft und das Meisterwesen lobt. Anlass ist die Siegfried-Saga. Eine Kostprobe:
„Im Gegensatz zur herrschenden Ideologie, dass es genüge, durch Beseitigung sozialer Barrieren das Talent in jedem Kind zum Blühen zu bringen, geht die Idee der Meisterschaft davon aus, dass es einer kundigen Anleitung, dass es eines Vorbildes, dass es einer manchmal auch demütigen Lehrzeit, dass es auch einer hohen Frustrationstoleranz bedarf, um in einer Sache Wissen und Können, Geschicklichkeit und Souveränität, Erfahrung und Neugier, Virtuosität und Gespür für das Angemessene in einer sinnfälligen Weise zu vereinen. Der Weg zur Meisterschaft ist, auch für solche Ausnahmetalente wie Siegfried, immer ein beschwerlicher Weg gewesen, immer eine Arbeit am Gegenstand und an sich selbst“.
In einer Zeit des Relativismus und der Schamlosigkeit, in der allzu oft leichtfertig nach der Devise gehandelt wird, weil alles ist möglich, sollten wir auch alles tun, bietet der Band an vielen Stellen Gelegenheit zum Innehalten. So kann Würde auch darin liegen, etwas zu tun, was man tun muss, trotz unschöner Folgen.
Mit Blick auf Stars, Rekorde und Sternchen gilt vielleicht, dass nichts so verführerisch ist wie der Blick auf Souveränität und Vollkommenheit. Das liegt auch an unserem Unwissen; es mangelt uns an Kenntnissen über die Vorgeschichten. Das vermag der Band offenzulegen. Der Leser bleibt der Souverän, der sich bereichern lassen kann durch Perspektiven auf Jahrtausende währende Grundsätze menschlichen Daseins.
Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen, Hanser Verlag, München 2016, 223 S., 20,00 Euro.