Ungeschehene Geschichte und unsere Zukunft
Ungeschehene Geschichte und unsere Zukunft

Ungeschehene Geschichte und unsere Zukunft

Ungeschehene Geschichte und unsere Zukunft

Der letzte Universalhistoriker Deutschlands, Alexander Demandt, hat vor fast 40 Jahren ein richtig gutes Buch geschrieben: Ungeschehene Geschichte. Es ist sein erfolgreichstes. Der kleine Band war ein Tabubruch in der Historikerzunft. Bis heute ist es ein kluges, weitsichtiges Buch. Teamwork bildet die Grundlage, da es auf zahlreichen Arbeiten und Einsichten von Studenten beruht, die in einem Seminar am Friedrich-Meinecke-Institut im Wintersemester 1983/84 mit ihren Arbeiten eine Grundlage schufen. Die “beknackte” Bürokratie sei auch erwähnt: Das Landesprüfungsamt wollte die Seminarscheine nicht anerkennen.

Warum ist das Buch so gut?

Im Mittelpunkt steht die von Nietzsche formulierte “kardinale Frage”:

“Was wäre geschehen, wenn das und das nicht eingetreten wäre?”

Behandelt wird nicht zuletzt das von Wilhelm von Humboldt kritisierte Streben: “Das allgemeine Bestreben der menschlichen Vernunft ist auf die Vernichtung des Zufalls gerichtet.” Dabei ist der Übergang zwischen Regel und Zukunft fließend wie Alexander Demandt treffend bemerkt. Das weißt auf unsere Neigung hin, konsistente und konsequente Geschichten herbei zu assoziieren und zu erzählen, weil sie uns so angenehm stringent erscheinen. Dabei spielt eine Rolle, dass es uns leichter fällt, “etwas Geschehenes wegzudenken, als etwas Ungeschehenes zu erfinden.” Das hat einen praktischen Grund: “Handlung bedeutet Veränderung”. Handeln ist nicht determiniert. Handlungsfolgen sind nicht determiniert. Gerade in Krisenmomenten spielen kleine Dinge eine große, verändernde Rolle. Schließlich sei an unsere scheinbar grenzenlose, tatsächlich eingeschränkte Phantasie erinnert, die stets mit bereits existierenden Versatzstücken arbeitet.

Tiefe Einsicht in geschichtliches Geschehen

Carl Friedrich von Weizsäcker konstatierte: “Die Geschichte ist das Feld der Möglichkeiten.” Erst im Nachhinein bilden wir stringent wirkende Kausalketten. Wir wären indes gut beraten nicht verwirklichte Alternativen mitzudenken. Und wir sollten uns über die Wahrscheinlichkeit ihres (Nicht-)Eintretens ein Urteil bilden. Das gilt gerade für Wendepunkte der Geschichte. Mit den Worten von Alexander Demandt:

“Die Zeitreihe der Entscheidungssituationen verleiht der Geschichte eine Knotenstruktur. Eine Weile geht es glatt, dann kommt ein Knoten, eine Wende.”

Die Rolle von Strukturen, Personen und Entwicklungen leuchtet Alexander Demandt aus – theoretisch und praktisch an mehr als einem Dutzend Beispielen. Die kontrafaktischen “Was wäre, wenn …?” Betrachtungen beginnen mit einer Niederlage der Griechen bei Marathon 490 v. Chr., reichen über einen erfolgreichen deutschen Bauernkrieg 1525 bis zu einer gelungenen Verschwörung vom 20. Juli 1944.

Historisch bedeutsam ist u.a. die gewonnene Klarheit über Voraussetzungen, Alternativen und Konstanten der jeweiligen geschichtlichen Handlungssituation. Im Nachhinein ist man dann noch viel klüger als bei einer reinen Begründung, warum es so geschehen ist.

Perspektivisch wertvoll sind die Erkenntnisse, die zeigen, was hätte geschehen müssen und müsste derzeit oder künftig geschehen, damit dieses oder jenes Realität wird. In der Geschichte lassen sich viele Muster und Archetypen erkennen, die immer wieder in abgewandelter Form auftreten. Machtkonstellationen und Nachfolgefragen gehören genauso dazu wie Ursachen für Konflikte, Innovationen und eine bessere Lebensqualität. Außerdem bekommt der Leser ein Gespür für wahrscheinliche und für unwahrscheinliche Ereignisse.

A. Demandt (FU Berlin)

Alexander Demandt weist auf weiche und harte Zustände oder Entwicklungen hin, also formbare und spröde, feststehende. Wenn sich, was selten der Fall ist, Strukturen verflüssigen, dann ist das nicht nur von besonderem historischen Interesse, sondern gerade auch für die Zeitgenossen bedeutend.

Mehr als nur eine Randbemerkung erscheint die Erkenntnis: Der Gang der Politik sei in den großen Linien erstaunlich stetig und in breiten Schichten verankert.

Überdies bietet die kontrafaktische Perspektive die Chance, leichter (eigene) Normsetzungen von Wünschenswertem von der nüchternen Darlegung der Fakten zu trennen.

Schon klasse: Geschichte bietet die Möglichkeit in die Zukunft zu blicken, um anschließend in die Geschichte zurückzukehren!