Vom Ende der alten politischen Welt
Vom Ende der alten politischen Welt

Vom Ende der alten politischen Welt

Als mp3-Podcast:

Und als Text:

Die Tragweite revolutionärer Erfindungen ist manchen Beobachtern sofort klar. In der Öffentlichkeit dauert es zuweilen länger, um jenseits von Sprechblasen die substanzielle Transformationskraft zu erkennen. Das gilt für den Buchdruck genauso wie für die viel beschworene digitale Revolution.

Der frühere CIA Analyst und Publizist Martin Gurri hat den durch die Digitalisierung ausgelösten „Informations-Tsunami“ während seiner Arbeit tagtäglich erlebt und sorgfältig über dessen Auswirkungen nachgedacht. Bereits 2014 publizierte er mit vielfältigen Bezügen zum Arabischen Frühling das überaus lesenswert Buch „The Revolt of the Public“, das seit 2018 in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung vorliegt. Wie so häufig fördert das Gespräch mit Russ Roberts auf Econtalk tief schürfende Einsichten zutage.

Kernaussage

Gurris zentrale These lautet: Die Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts haben es der Öffentlichkeit ermöglicht, die Macht der politischen und medialen Eliten zu brechen. Deren Streben nach Aufrechterhaltung und Rückkehr zum institutionellen Gefüge des 18. oder 19. Jahrhunderts kollidieren mit der neuen Welt, die durch direkte Kommunikation und flache Hierarchien gekennzeichnet sei. Das Ansehen der alten Eliten sei unwiderruflich dahin. Anstelle der alten Institutionen gelte es an neuen zu arbeiten.

Begründungen

Wie lassen sich die Argumente des Bloggers von „the fifth wave“ frei, tw. ergänzend zusammenfassen?

    • Am Anfang ereignete sich ein digitales Erdbeben, ein „Informations-Tsunami“. 2001 wurden erstmals in einem Jahr mehr Informationen generiert als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Die Informationswelle schwappte über die gesamte Erde – mit welchen Folgen? Revolten! Die Öffentlichkeit erhob sich insbesondere 2011, nicht nur im arabischen Raum, auch in Israel und Spanien, zuvor seit 2003 bereits in Georgien, Ukraine Libanon, Iran, später in Chile, Frankreich, Hongkong.
    • Die alten politischen Institutionen sind nach dem industriellen Prinzip des Taylorismus konzipiert: top down. Allwissende Eliten, in Politik und Medien, Universitäten und Schulen, stehen demnach über dummen Bevölkerungen. Wenn Politik nicht ankommt, muss sie für die Trottel besser vermittelt werden. Das Prinzip wird es für Martin Gurri nie wieder geben. Das Monopol ist für ihn gebrochen. Das Vertrauen zerstört. Der Kaiser trägt keine Kleider. 
    • Weltweit sichtbar wird jeden Tag: Die Experten irren sich, sie liegen falsch, permanent. Dazu gehören auch die Ökonomen seit der Finanzkrise 2008. Zudem verfolgen die Eliten tagein tagaus nicht das Gemeinwohl, sondern vor allem ihr eigenes Wohl. Medien wie die New York Times bekannten sich angesichts der Trump-Wahl dazu, nicht mehr nach der Wahrheit zu suchen, sondern Partei zu ergreifen. Dasselbe gilt für die Universitäten.
    • Die öffentliche Darstellung hat sich gewandelt: weg von der (übertriebenen) Heldenverehrung hin zur (übertriebenen) Dekonstruktion von Führungspersonen. Nichts bleibt heute mehr privat für öffentliche Personen. Politische Ämter gelten nicht mehr als Verpflichtung, mehr zu geben als zu nehmen. Vielmehr gilt das umgekehrte Prinzip. George Washington war für Gurri hingegen ein Beispiel für jemanden, der sich erleichtert ins Privatleben zurückzog.
    • Die Forderungen der Öffentlichkeit sind für Martin Gurri im Kern nicht ökonomische. Die Eliten wünschten sich sozioökonomische Ursachen. Tatsächlich gehe es aber um mehr: um das Versagen der Eliten, deren Selbstzentriertheit und deren Distanz zur Bevölkerung. Das System werde als dermaßen korrupt angesehen, dass es einfach nur noch zerstört werden soll. Heute seien all die Hierarchiestufen zwischen dem einfachen Bürger und dem Regierungschef nicht mehr nützlich und notwendig.
    • Was tun? Reformen statt Revolution. Evolution und kleine Schritte während die Demokratie noch gute Chancen habe, fortzubestehen. Downscaling sei erforderlich, entpolitisieren. Die Welt fraktioniere. Eine Ermächtigung der lokalen Selbstverwaltungen sei ein zeitgemäßer Ansatz und dafür brauche es eine neue Elite wie schon im Zuge der Aufklärung.

Einordnung

Elitenkritik und eine Fragilität der Ordnung des Westens werden von Martin Gurri nüchtern betrachtet, wie es Aufgabe eines Analysten ist. Die Hypothesen und ihre Begründungen ergeben ein plausibles Gesamtbild. Angewandte Erkenntnisse wie die von Gene Sharp mit seinem Leitfaden für die Befreiung von der Diktatur zur Demokratie und die frühzeitigen Warnungen der Arab Human Development Reports passen in dieses Bild. Der Populismus und seine Kritiker lassen sich in eine solche Gesamtschau einordnen. Das gilt auch für die verfahrenen politischen Debatten sowie die Fraktionierung, nicht zuletzt in den sozialen Medien, die zu einer defekten Demokratie führen. Der Politische Kapitalismus ist dazu passend das Eliten-Wirtschaftssystem.

Sorgenfalten sollten sich auf jeder liberalen Stirn bilden, wenn nicht vertiefen. Das gilt zumindest für alle, die nicht wie Martin Gurri Kurzfrist-Pessimist und Langzeit-Optimisten sind. Liberale sind nicht erfolgreich organisiert und haben keine attraktiven Lösungen parat. Vermutlich ist an Gurris Überzeugung etwas dran, dass die normale Bevölkerung (heute) keine Programm und keine Ideologien möchte, sondern pragmatische Lösungen akzeptiert. 

Das ist ein Vorteil. Die sich abzeichnende Perspektive einer de- oder sogar non-zentralen Gesellschaft mit lokal ermächtigten Menschen, die sich selbst verwalten, könnte als Netzwerk-Gesellschaft die Nachfolge des Nationalstaats des Industriezeitalters antreten. Sie ist, wenn auch ohne politische Herrschaft, bereits sichtbar und entspricht möglicherweise der neuen natürlichen Ordnung. Das klingt gleichwohl derzeit noch ziemlich utopisch.

Michael von Prollius

Literatur: Martin Gurri: The Revolt of The Public and the Crisis of Authority in the New Millennium, Erstauflage 2014, San Francisco 2018, 488 S., 15,02 Euro