Das Schlechteste aus beiden Welten
Das Schlechteste aus beiden Welten

Das Schlechteste aus beiden Welten

In den Medien sehen, hören und lesen wir viel über Neoliberalismus, Turbokapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Debatte und mit ihr die Forschung über Wirtschaftssysteme eingeschlafen. Aus dem Halbschlaf kurz aufgeschreckt hat der wirtschaftliche Erfolg der autoritären Staatswirtschaft China, der allerdings primär auf Abkehr vom Sozialismus und Hinwendung zur Marktwirtschaft beruht. Zugleich kehrt nach mehr als einem Jahrzehnt Abwesenheit die Standortfrage nach Deutschland zurück. Das liegt auch an der Klimapolitik, bei der Forderungen nach einer Änderung unserer Wirtschafts- und Lebensweise laut werden. Zugleich werden Populismus, demgegenüber weniger Klientelismus und unethisches Verhalten der Eliten thematisiert. Lassen sich in dieser Vielfalt von Erscheinungen Zusammenhänge identifizieren?

Heute dürfte der Masse gebildeter Menschen unklar sein, in welchem wirtschaftlichen System wir leben. Randall G. Holcombe, renommierter Professor an der Florida State University, gibt eine klare Antwort: Wir leben im Politischen Kapitalismus, d.h. in einer politisch überformten Marktwirtschaft. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Mischung aus Politik und Marktwirtschaft, sondern um ein eigenständiges System. Die spezifischen Institutionen dieser Form einer politisierten Wirtschaft ermöglichen es der ökonomischen und politischen Elite eines Landes, öffentliche Politik nach ihren Interessen und zu ihrem Vorteil zu gestalten. Gewinner sind diejenigen, die politischen mitspielen können. Vetternwirtschaft oder Filzokratie ist nicht die Ursache, so Holcombe, sondern die Folge des Systems.

Was inzwischen auch andere Beobachter bemerken, ist die unheimlich anmutende Nähe zu einem historisch abschrecken Wirtschaftssystem. Am nächsten komme dem Politischen Kapitalismus, so Holcombe, die faschistische Wirtschaft in Deutschland zwischen den Weltkriegen. Tatsächlich war das dort auch freie, wenn auch vielfach gebundene und schließlich gefesselte Unternehmertum auf vielfältige Weise mit dem damaligen Primat der Politik verflochten und bildete ein eigenständiges Wirtschaftssystem.

Politischer Kapitalismus ist nicht lediglich durch die Intervention des Staates in die Wirtschaft gekennzeichnet. Vielmehr handelt es sich Holcombe zufolge um einen institutionellen Rahmen, der es der Elite ermögliche, das System zum eigenen Vorteil zu gestalten, dabei Produktivität vom Gewinn zu entkoppeln. Die politische Elite von der ökonomischen getragen, der wiederum Privilegien eingeräumt werden („rent seeking“ und „regulatory capture“). Ein Wesensmerkmal ist, dass die Vorteile auf wenige Menschen konzentriert werden, während die Kosten viele zu tragen haben. Besonders gravierend sei die unbeschränkte Macht der Staatsführung, weshalb die Mächtigen das System so gestalten können, dass sie ihren Elite-Status behalten – das Problem sei nicht ungezügelter Kapitalismus, sondern ungezügelte Politik. Die Eliten stellen ihre Interessen über die der Massen und lenken die Marktwirtschaft, den Wohlstand für jederman, für ihre Zwecke um.

Holcombe verbindet fruchtbar etablierte Theorien: Wirtschaftssystem plus Elitentheorie plus Public Choice plus Regulierungsstaat mit politischen Interessengruppen, die erfolgreiches Rentenstreben betreiben. Der problematische Wohlfahrtsstaat tritt als Umverteilungsstaat in Erscheinung, kann jedoch allein das Phänomen nicht erklären. Das gleiche gilt für die viel beklagte Rückkehr zum Sozialismus. In der Politischen Wirtschaft stehen sich Marktwirtschaft und Demokratie grundsätzlich konträr gegenüber. Marktversagen soll irrigerweise permanent auftreten und angeblich durch die Politik geheilt werden können.

Das Konzept des Politischen Kapitalismus kann erklären, warum eine zuweilen dezidiert unternehmerfeindliche Politik und die nicht nur ökonomisch widersinnige Klimapolitik praktiziert werden genauso wie die viel beklagte Abkopplung der Eliten von der Realität sind. Die Beobachtungen von Wolfgang Sofsky in „Macht und Stellvertretung“ mit der Umwandlung des Gefolgschaftsverhältnisses von Wähler und Gewählten passt ideal dazu.

Nach dem Ende der Sozialen Marktwirtschaft und der Preisgabe der wesentlichen Überzeugungen unserer Gründerväter erscheint angesichts der akkumulierten Interventionen und unaufhörlichen Forderungen nach einem Primat der Politik der Begriff und das analytische Rüstzeug des Politischen Kapitalismus sehr gut geeignet, um das entstandene neue System in Deutschland und in der EU, aber auch in den USA zu kennzeichnen. Am Beginn einer neuen Ära erweist sich Randall G. Holcombe wahrscheinlich ähnlich hellsichtig wie derjenige, dem er den Begriff politischer Kapitalismus zuschreibt: Max Weber (1922).

Michael von Prollius

Literaturangabe: Randall G. Holcombe: Political Capitalism. How Economic and Political Power is Made and Maintained, Cambridge University Press, Cambridge 2018, 294 S., 31,21 Euro (Taschenbuch).