Deutschland: ordnungspolitisch lädiert und wirtschaftspolitisch angeschlagen
Deutschland: ordnungspolitisch lädiert und wirtschaftspolitisch angeschlagen

Deutschland: ordnungspolitisch lädiert und wirtschaftspolitisch angeschlagen

Deutschland: ordnungspolitisch lädiert und wirtschaftspolitisch angeschlagen

Wir leben in einer Zeit mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne und werden überflutet von aktuellen Nachrichten mit weit überwiegend geringem Wert. Zugleich gibt es qualitativ hochwertige Beiträge, die vielfach über neue Medien transportiert werden. Der Podcast von Daniel Stelter „beyond the obvious“ gehört für mich dazu. Im aktuellen Beitrag wird in der ökonomischen Perspektive der Migration – ökonomisch belastende Einwanderung, ökonomisch nachteilige Auswanderung – das Thema Standort Deutschland behandelt. Die Standortfrage war früher üblich und wurde viel thematisierte. Die nachstehende Buchbesprechung aus dem Jahr 2005 (leicht angepasst) macht deutlich wie destruktiv die Wirtschaftspolitik bereits bis 2005 wirkte. 

Horst Siebert: Jenseits des Sozialen Marktes. Eine notwendige Neuorientierung der deutschen Politik. 539 S., Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.

„Im Laufe der letzten 40 Jahre ist Deutschland im Bereich seiner wirtschaftlichen Steuerung einem Irrweg gefolgt.“ (S. 515) So lautet 2005 (sic!) die Botschaft des emeritierten Präsidenten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, der zudem von 1990 bis 2003 Mitglied des Sachverständigenrates war und damals in Bologna lehrte. Das Steuerungsproblem durchdringt alle Bereiche des deutschen Wirtschaftssystems wie Siebert in 14 Kapiteln vom Arbeitsmarkt über die sozialen Sicherungssysteme, die Gütermärkte und den Umweltschutz bis zur Finanzpolitik aufzeigt. Die deutsche Wirtschaftsordnung befindet sich in einem traurigen Zustand. Die Lektüre der durch die Politik verschuldeten Fehlentscheidungen, vor allem der eklatante Mangel, das sachlich Notwendige zu tun, waren Anfang des 21. Jahrhunderts besorgniserregend.

Zwei Erkenntnisse vermittelt Sieberts Überblick über die deutsche Volkswirtschaft: Erstens hätte die Lösung der institutionellen Probleme durch eine konsequente Ordnungspolitik einen Dammbruch auslösen können, vergleichbar mit dem von den Amerikanern und Ludwig Erhard gegebenen Startschuss der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948. Weltweite theoretische und empirische Untersuchungen sowie Indices wie der Economic Freedom Index gaben Siebert Recht. Zweitens erschien es geradezu rührend anzusehen mit welchem (Zweck)Optimismus der Mahner auf Reformen durch die Politik setzte, deren Vertreter nicht nur die Probleme hervorgerufen hatten, sondern sich auch gegen Reformen im Allgemeinen und Wettbewerb im besonderen sperrten. So schrieb Horst Siebert von einem Schlüsselbereich der deutschen Volkswirtschaft: „Die Politik ist nicht bereit, das Hochschulsystem dem Wettbewerb zu öffnen. Darin liegt ein schwerwiegendes Hemmnis bei der Herstellung eines innovativen Umfeldes in einer Wissensgesellschaft.“ (S. 83).

Mit Horst Siebert erhob nach Meinhard Miegel, Hans-Werner Sinn und anderen ein weiterer prominenter Volkswirtschaftler mahnend seine Stimme und liefert eine nüchterne Gesamtschau der ökonomischen Probleme sowie knappe Hinweise auf teils wissenschaftlich, teils technokratisch anmutende Auswege. Zugleich wurde schmerzhaft deutlich, dass Deutschland brillante Köpfe fehlen, Nationalökonomen wie Sozialphilosophen, die ähnlich Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow wortgewaltig und leidenschaftlich, gewissermaßen mit eloquenter Immanenz, den Weg zur Freiheit weisen.

Dementsprechend fehlt dem Handbuch, das eine Übersetzung eines ursprünglich englischen Buches bot, welches Ausländern die Funktionsweise der deutschen Volkswirtschaft erklären sollte, eine ganzheitliche Sicht, ein Blick für die Interdependenz der Ordnungen von Wirtschaft, Politik und Kultur. Dennoch lohnt es sich, die Empfehlungen Sieberts zu skizzieren.

Vorausschicken lässt sich die Erkenntnis von 2005, dass die Deutschen sowohl härter, länger und intelligenter arbeiten müssen als auch ihre Denkgewohnheiten neu justieren müssen, denn vieles, was notwendig ist, passt nicht zum deutschen Denken.

  • Kapitel 1 vermittelt neben statistischen Grundlagen – weniger als 50% der Bevölkerung arbeiten – einen wirtschaftshistorischen Abriss einschließlich dreier Fehlentwicklungen: zu niedriger Wachstumspfad, zu hohe Arbeitslosigkeit, erdrückende, zudem nicht mehr finanzierbare staatliche soziale Sicherungen.
  • Kapitel 2 schafft ein Grundverständnis für die Soziale Marktwirtschaft, die in ihrer heutigen Gestalt einschließlich der Europäischen Verfassung den Vorstellungen ihrer ordoliberalen Väter widerspricht.
  • Kapitel 3 bietet Gründe für das geringe Wachstum, darunter fehlende Investitionen, unzureichende Innovationen wegen staatlicher Restriktionen und mangelhaftes Humankapital infolge staatlicher statt wettbewerblicher Bildungssysteme. Deutschland befindet sich nicht seit der Wiedervereinigung oder als reife Volkswirtschaft auf einem niedrigen Wachstumspfad, sondern durch systemische, strukturelle Probleme, die Folge des sozialen Überbaus sind und die Volkswirtschaft schädigen. Diese Erosion der Wirtschaftskraft lässt Deutschland zum historischen Phänomen der NZL, der „Neu zurückfallenden Länder“ (S.103) werden.
  • Kapitel 4 benennt die Gründe für die Massenarbeitslosigkeit: mangelhafte Lohndifferenzierung, hohe Anspruchs- und Mindestlöhne, Sozialleistungen und Gewerkschaftsmacht. Immer wieder beleuchtet Horst Siebert damals aktuelle Irrtümer wie die Ausbildungsplatzabgabe, die einem Offenbarungseid des Verständnisses der Politiker von der Funktionsweise der Wirtschaft gleicht.
  • Das gilt auch für die in Kapitel 9 als ordnungspolitisch beispielhafte Fehlleistung enttarnte Ökosteuer.
  • Die drei dazwischen liegenden Kapitel beschäftigen sich mit den sozialen Sicherungssystemen, der alternden Gesellschaft und der Einwanderung.
  • Hinzu kommt Kapitel 8 – die Regulierung der Gütermärkte wirft ein Licht auf die deutsche Seele. Paternalismus, staatliche Vorschriften für alle freien Berufe als vermeintlicher Schutz der Bürger und staatliche Monopole, im (Irr)Glauben, der Staat sei anders als private Unternehmen um das Interesse der Allgemeinheit bemüht, führen dazu, dass ungefähr 50% der deutschen Volkswirtschaft stark (!) reguliert sind.
  • Aus Kapitel 10, das sich mit dem Kapitalmarkt und der Unternehmenssteuerung beschäftigt sei ein Problem hervorgehoben, das der Markt bald entscheiden wird, nämlich die Wettbewerbsfähigkeit der zweistufigen deutschen Unternehmenssteuerung mit Vorstand und Aufsichtsrat. Besonders zerstörerisch wirkt sich das permanente Streben nach Gleichheit im Bildungssystem aus.
  • Kapitel 11 zeigt, dass das Prinzip Uniformität statt Differenzierung den Universitäten die internationale Wettbewerbsfähigkeit gekostet hat und das Schulsystem zu wünschen übrig lässt. Insgesamt ähnele der wichtigste Sektor der Volkswirtschaft mit seinem bürokratischen Allokationsprozess der ehemaligen Planwirtschaft. (S. 356) Es spricht für sich, dass solche Warnungen vor dem Weg in eine „DDR light“ (Arnulf Baring) als (neoliberale) Panikmache abgetan werden.
  • Die in Kapitel 12 analysierte Finanzpolitik läst sich einfach zusammenfassen, „desolat“ und „erschütternd“. (S. 364) Die implizite Verschuldung des Systems der sozialen Sicherung einschließlich Pensionen und staatlichem Defizit steigt bis 2050 auf 270% des BIP von 2002. Der Umfang der notwendigen Anpassungen dürfte die Vorstellungskraft der allermeisten Politiker übersteigen.
  • Zugleich ist der Bewegungsspielraum für eine nationale Wirtschaftspolitik durch die Verlagerung vieler Steuerungsinstrumente auf die EU beträchtlich eingeengt wie Kapitel 13 zeigt.
  • Zusammengenommen sind die deutschen Steuerungsmechanismen (Kapitel 14) Ausdruck der politischen Präferenz, die ganz simpel ist: „Wer mehr Kollektivismus statt Märkte und Wettbewerb möchte, muss dafür den Preis eines volkswirtschaftlich weniger dynamischen Systems zahlen.“ (S. 497).

Es kann nur einen Ausweg geben: Ein tiefgreifender Wandel, eine Wiederbelebung (!) der Marktwirtschaft ist notwendig. Da Deutschland an einem Scheideweg steht, müssen wir uns wie vor fast 60 Jahren (Perspektive von 2005) entscheiden zwischen „sozialer Gerechtigkeit“ und Dynamik, Kollektivismus und individueller Freiheit, korporatistischer Entscheidungsfindung und Wettbewerb. Einen dritten Weg gibt es nicht. 1948 hat uns ein „wohlmeinender Diktator“ die Entscheidung abgenommen.

Nachsatz: Seit 2005 hat der Standort Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verloren und ist der Wohlstand im Vergleich zu den USA gesunken. Das erklärt, warum man über die dortigen hohen Lebenshaltungskosten staunt. Einen Hinweis bietet ein Vergleich: Was glauben Sie wie viel ein LKW-Fahrer in den USA verdient (1 Jahr Berufserfahrung – truckdriversalary, indeed) und wie viel ein BWL-Absolvent mit einem Master verdient (unicum, stepstone)? Beim Vergleich der Gehälter von Softwareentwicklern (statista, wearedevelopers) ist es noch einfacher. Und dann berücksichtigen Sie die Steuer- und Abgabenlast. Mit Daniel Stelter: Deutschland braucht höhere Gehälter. Und, so darf hinzugefügt werden, einen drastisch abgespeckten Staat. Was müsste passieren, damit das geschieht?

P.S. Der Titel orientiert sich an dem Beitrag von Norbert Berthold: Wirtschaftspolitik heute. Viel ordnungspolitischer Unfug, in: Wirtschaftliche Freiheit am 08.12.2022.