Hungermord
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Hungermord

Hungermord

Wir werden die letzten Reste des Kapitalismus zerschmettern.“ Diese Worte stammen nicht von einer Klimaaktivistin, sondern von Nadja, die 1929 einen Brief an den amerikanischen Sozialisten Maurice Hindus schrieb. Die Zwangskollektivierung der ukrainischen Bauern stand unmittelbar bevor. Die Sozialisten – Stalin und seine willigen Vollstrecker – eskalierten nach dem Desaster ihrer brutalen Enteignungspolitik, d.h. dem Verbot freier Bauern, deren Status vielfach wieder Leibeigenen gleichkam, noch mit einem letzten Schritt: gezieltem millionenfachem Hungermord. Eine dilettantische Wirtschaftspolitik war Teil des Primats der sozialistischen Politik. Ideologie flankierte nackte, grausame, menschenverachtende Machtpolitik. Das Ziel, der Sieg des Weltkommunismus, heiligt die Mittel, wie Lew Kopelew, einer der Gläubigen, 1929 schrieb. (S. 155 wie das Zitat zuvor)

Lesen kann man das, was Täter und Opfer schrieben, in Anne Applebaums Monographie über Stalins Krieg gegen die Ukraine unter dem Titel „Roter Hunger“. Die erste Gesamtdarstellung des sozialistischen Hungermords ist aus mindestens drei Gründen lesenswert:

  1. „Roter Hunger“ bietet ein differenziertes Gesamtbild des in Deutschland wenig bekannten und wenig erforschten Holodomors.
  2. Der aktuelle Angriffs- und Vernichtungskrieg von Putin und seinem autoritären Regime gegen die Ukraine lässt sich besser verstehen.
  3. Das Wesen des realen Sozialismus – rücksichtslose Machtpolitik einer unterdrückerischen Clique – wird in seinen schaurigen Facetten sichtbar.

Anne Applebaum, Jahrgang 1964, amerikanische Historikerin und Journalistin mit Schwerpunkt Osteuropa, als Professorin hatte sie verschiedene Lehrstühle inne, u.a. Pulitzer-Preis-Trägerin für „Der Gulag“, hat die historische Aufarbeitung des Massenmords den Opfern gewidmet. Es hätte auch Holodomor heißen können. Im Ukrainischen steht holod für hunger und mor für Tötung, Mord. Wissenschaftlich wird der Band u.a. als „gelungene Synthese vorhandener Studien als auch eine genuine Forschungsleistung“ bewertet (Link).

Inhalt/Konzeption

Neben Vorwort, Einleitung und Epilog besteht das 450 Textseiten umfassende Buch aus 15 Kapitel zur ukrainischen Frage und Revolution, über die Entwicklung der Lage in den 1920er Jahre bis zum Holodomor, dem Hungermord selbst und den Nachwirkungen, Vertuschungen sowie dessen Rolle in der Geschichte und Politik. Immer wieder werden zeitgenössische Stimmen in hervorgehobenen Abschnitten zitiert. Die untersuchungsleitenden Fragen lauten: Was geschah in der Ukraine zw. 1917 und 1934, speziell 1932/33? Was führte zur Hungersnot und wer trug die Verantwortung? Welche Bedeutung hat der Holodomor für die ukrainische Nationalbewegung?

Einzelaspekte

Während und nach der Lektüre finde ich für Leser und diejenigen, die nicht die Lesezeit finden, vor allem folgende Einsichten der geschichtswissenschaftlichen Arbeit bemerkenswert:

  • Die persönliche Verantwortung für den Holodomor trug an der Spitze Stalin, der mannigfach vor der Krise gewarnt wurde. Stalin fürchtete die Verbindung der ukrainischen Intelligenz mit bäuerlichen Protesten (also Unabhängigkeit und Widerstand) und verschärfte deshalb gezielt die Not. Indes lässt sich der Massenmord nicht auf eine Person reduzieren.
  • Das sowjetische Politbüro verschärfte mit seinen Beschlüssen im Herbst 1932 die Krise. Es kam überall zu Hungersnöten. Wesentliche Hungerbeschlüsse waren: Beschlagnahmungen, schwarze Listen, Grenzen schließen gegen Abwandern, Hausdurchsuchungen, das Ende der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Ukrainisierung, massive Propaganda und Einschüchterung. Anne Applebaum urteilt: Die Hungersnot war ein „Akt staatlicher Aggression“ (S. 433).
  • Polizisten und Parteifunktionäre durchsuchten die Häuser, nahmen alles Essbare mit. Mindestens 5 Millionen Menschen verhungerten in der Sowjetunion 1931-1934, darunter mehr als 3,9 Mio Ukrainer, vor allem im Winter 1932/33.
  • Die aus machtpolitischen Gründen betriebene Kollektivierung und die Forcierung durch die Getreidepolitik bilden eine zentrale Ursache für den Hunger. Die Aufhebung des Eigentums ließ die Kornkammer implodieren. Aus freien Bauern wurden gleichsam leibeigene Arbeiter des sozialistischen Systems, ohne freie Entscheidungen über ihr Leben und mit einer Fremdkontrolle über ihren Aufenthaltsort. (208) Die Produktion brach ein, die Maschinen gingen kaputt, Bauern wanderten zunächst in Städte ab, eine Hungersnot bahnte sich im Frühjahr 1932 weithin sichtbar an.
  • Die Beschreibung des Holodomors dokumentiert die Entmenschlichung, beschreibt das unglaubliches Leid von Erwachsenen und Kindern, enthält auch Fotos vom Hungertod. Kannibalismus war eine Begleiterscheinung.
  • Parallel wurde die ukrainische Elite durch Gefängnis, Arbeitslager, Hinrichtungen eliminiert. Die Ukraine wurde sowjetisiert. „Der Hunger besiegte sogar den Widerspruchsgeist.“ (S. 299) Es kam zu Selbstmorden aus Verzweiflung, darunter Mykola Skrypnyk, einer der bekanntesten ukrainischen KP-Führer, und schließlich sogar Stalins an Depressionen leidende Frau, Nadeschda Sergejewna Allilujewa, im November 1932.
  • War der Holodomor ein Genozid? Nach Auffassung des Schöpfers dieses Begriffes, dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, handelt es sich dabei um die Vernichtung einer Kultur und Nation. Anne Applebaum hält die Entscheidung, ob es sich um Genozid oder Massenterror handelt, angesichts der furchtbaren Ereignisse für nicht mehr so wichtig.

Danach und davor

  • Aufgrund der systematischen Vertuschung und Leugnung konnte der Hungermmord erst nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgearbeitet werden.
  • Im Zweiten Weltkrieg kam es erneut zu einer Hungersnot nach der Eroberung der Ukraine durch die Wehrmacht. Die Nationalsozialisten beabsichtigten bis zu 30 Millionen Ukrainer verhungern zu lassen und begannen mit Massenerschießungen von Juden und somit dem Holocaust.
  • Bereits 1921-1923 hatte es eine Hungersnot gegeben, die in vielerlei Hinsicht wie ein Vorläufer des Holodomor erscheint, wenn auch die amerikanische Hilfsorganisation ARA hunderttausendfache Hilfe mit Nahrungsmitteln und Medikamenten leistete.

Einordnung

Die letzten Sätze des Buches lauten: „Die Hungersnot und ihre Folgen hinterließen schreckliche Spuren. Doch obwohl die Wunden noch da sind, versuchen Millionen Ukrainer zum ersten Mal seit 1933, sie zu heilen. Als Nation kennen die Ukrainer die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, und dieses Wissen kann dabei helfen, ihre Zukunft zu formen.“ (S. 449)

Furchtbarer Dilettantismus

Der Sozialismus ist von seinem Wesen her ein ökonomischer Offenbarungseid. In der Sowjetunion und vielfach in „Roter Hunger“ illustriert in der Ukraine setzten die Sozialisten zur Verbesserung vor allem auf Gewalt. Dabei war Double bind eine Strategie: erfolgreiche Bauern wurden zu Staatsfeinden erklärt und bestraft, nicht erfolgreiches Arbeiten bedeutete hungern.

Das Buch zeigt das Scheitern des Kriegskommunismus und der sozialistischen Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren: „Der Kriegskommunismus war gescheitert. Der radikale Arbeiterstaat hatte den Arbeitern keinen Wohlstand gebracht. Gegen Ende der 1920er Jahre scheiterte .. auch Lenins Neue Ökonomische Politik.“ (S. 115) Und 10 Jahre nach der Revolution war der Lebensstandard immer noch niedriger als unter dem Zaren.

Wer sich noch Illusionen über einen menschlichen Sozialismus hingibt, der sollte dringend Hungermord lesen.

Literatur: Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, Siedler Verlag, 3 Auflage München 2017 (englische Originalausgabe: Red Famie. Stalin’s War on Ukraine), 449 Seiten, 38,00 Euro.

Nachwort: zwei weitere Perspektiven auf den Holodomor

Der Holodomor zählt zu den großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Millionen Menschen wurden vorsätzlich und wissentlich in den Hungertod getrieben. Viele wurden all ihrer Habe beraubt und wie Deportierte nur mit einem Nachthemd bekleidet sich selbst der eisigen Steppe überlassen.

Im „Schwarzbuch des Kommunismus“, Kapitel 7 über die Zwangskollektivierung und Entkulakisierung heißt es:

  • Die Zwangskollektivierung sei ein „regelrechter Krieg“ des Sowjetstaates gegen die ukrainischen Bauern gewesen. Mehr als 2 Millionen wurden deportiert, allein 1,8 Millionen zwischen 1930 und 1931; 6 Millionen verhungerten. Dieser Krieg wurde bis in die Mitte der 1930er Jahre weitergeführt. Die Hungersnot 1932/33 bildete den Höhepunkt (oder eher Tiefpunkt).
  • Der Hungerkrieg sei mit Absicht von den Behörden gegen die Bauern geführt worden, um deren Widerstand zu brechen und Erfahrungen zu sammeln für den späteren Einsatz gegen andere Gruppen.
  • Bereits am 27.12.1929 kündigte Stalin die Liquidierung der Kulaken als Klasse an.

Und Kapitel 8 „Die Große Hungersnot“ ist zu entnehmen:

  • Vertuscht und international durch Verblendung und Desinteresse oder Interesse an einer Wiederannäherung an die Sowjetunion sei der Holodomor unter den Teppich gekehrt worden. Zugleich seien westliche, insbesondere auch deutsche Politiker, zudem auch Mussolini, bemerkenswert genau unterrichtet gewesen.
  • 1930 seien 30% der Ernteerträge der Ukraine durch den sowjetischen Staat eingezogen worden, 1931 über 40%, zusätzlich seien Steuern erhoben worden. Zum Vergleich: Üblicherweise wurden 15-20% der Ernte verkauft, 15% als Saatgut zurückgelegt, bis zu 30% als Viehfutter verwendet und der Rest für die eigene Ernährung genutzt worden.
  • Auch Moskauer Agrargebiete seine im Zuge der Hungerkrise durch eine hohe Sterblichkeit (+50%) gekennzeichnet gewesen. 1933 habe die Übersterblichkeit insgesamt 6 Millionen Menschen betragen.

Der Band „Erinnerungsorte an den Holodomor 1932 / 33 in den Regionen“, herausgegeben von Anna Kaminsky im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur stellt 342 Orte in der Ukraine vor, die an den Holodomor erinnern: „Die einzelnen Beiträge beschreiben Gedenkzeichen in allen Teilen des Landes und vermitteln auf diese Weise einen Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe. Sie zeigen zudem, wie heute mit dem schweren Erbe der Aufarbeitung des Holodomor umgegangen wird.“ Online verfügbar.