Gesellschaftlicher Verfall
Schauen Sie optimistisch in die Zukunft? Wie denken Sie über die Entwicklung Deutschlands und Europas, wenn Sie einige Jahre, vielleicht wenige Jahrzehnte zurück- und drei, fünf, vielleicht zehn Jahre vorausschauen?
Über viel größere Zeiträume erstrecken sich die Betrachtungen von Geschichtsphilosophen und Kulturtheoretikern. Einer von ihnen war Arnold J. Toynbee (1889-1975). Mehrere Jahrzehnte war der britische Universalhistoriker einer der am meisten gelesenen und diskutierten Wissenschaftler weltweit. Toynbees Magnus opus im Wortsinn ist seine vielbändige Untersuchung zur Entstehung, Aufstieg und Verfall von Kulturen „Der Gang der Geschichte“ (A Study of History), die er von 1934 bis 1961 veröffentlichte.
Inzwischen ist er wissenschaftlich auf dem ideengeschichtlichen Abstellgleis gelandet und erfreut sich noch populärwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit. Warum? Weil seine Untersuchungen, seine vergleichenden Morphologien als wohlklingendes, assoziatives Narrativ erscheinen. Gedankenreich, anregend, aber nicht Fakten gestützt, nicht annähernd hinreichend mit Daten fundiert, dominieren Allegorien, Mythen, intuitiv plausible Erzählungen, die Kritiker als christlichen Moralismus bewerten.
Warum also mit Toynbee beschäftigen? Zunächst um gerade das zur Kenntnis zu nehmen. Der Aufstieg und Fall großer Mächte, um einen anderen großen britischen Geschichtserzähler zu bemühen, Paul Kennedy, folgt weder Naturgesetzen, noch ist er determiniert oder kann in einfache, lineare Entwicklungsmuster gepresst werden. Geschichte ist das Muster, das im Nachhinein in das vielfältige Geschehen gewebt wird. Allerdings ist das auch nicht Toynbees Perspektive. Abgesehen von der dominanten Rolle der Religion gilt Toynbees Theorie eher als evolutionär, grundsätzlich ergebnisoffen und vor allem von handelnden Menschen bestimmt.
Für eine gesellschaftspolitische Standortbestimmung mit Blick in die Zukunft, ohne selbst wissenschaftlich fundierte Untersuchungen durchzuführen oder eine Kulturtheorie zu entwerfen, bietet Toynbee reiches Material zum Nachdenken. Einige seien als Denkanstöße herausgegriffen:
- Das Prinzip „Challenges and Response“: Braucht eine Gesellschaft, eine Nation, eine Kultur oder Zivilisation Herausforderungen und welche können sich als produktiv erweisen?
- Herausragende Persönlichkeiten: Ist es heute angemessen, plausibel, gar wahrscheinlich auf überragende Menschen zu warten, die eine Gesellschaft voranbringen? Braucht es derartige Einzelmenschen und soziale Gruppen, die etwas bewegen? Toynbee geht von einer kreativen Minderheit aus, die bewegen kann, und einer trägen Mehrheit, die als Masse nachahmen kann.
- Geist, Gehirn, Materielles: Welche Rolle spielen geistige Entwicklung, insbesondere in der Kultur im engeren Sinne, wie Kunst und Literatur, welche wissenschaftliche Entwicklung und Wirtschaft inklusive Technik bzw. Technologie? Und lassen sich die Bereiche trennen?
Im Werk von Arnold J. Toynbee findet der Leser verschiedene Verfallsmuster von Kulturen. Während für den Briten der Säkularismus als Transformationskraft dominiert, können nachfolgende einzelne Kriterien aus seinem Werk herausgegriffen werden:
- Militarismus als Merkmal des Niedergangs und Rückschritts mit einem Ressourcen zehrenden, Konflikten primär mit einem Gewaltpotenzial begegnenden militärisch-industriellen Komplex.
- Dominanz des Status quo, also Verteidigung des Erreichten und dessen Verteilung statt einer kreativen, die Welt bereichernden, zukunftsorientierten Denk- und Arbeitsweise.
- In enger Verbindung damit die Fokussierung der Herrschenden auf den Machterhalt, mitunter koste es, was es wolle und in der Gestalt eines alles umfassenden Staates.
- Zugleich die Suche nach Sündenböcken, z.B. Kapitalismus oder Neoliberalismus, einer gestressten Gesellschaft mit Status quo Orientierung.
- Schließlich Propaganda und Massenbeeinflussung bei abnehmender, geringer Allgemeinbildung, die die Demokratie gefährden.
Mit Toynbee ließe sich argumentieren, dass Gesellschaften, die ihren Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind, die keine neuen, zeitgemäßen Lösungen finden, verfallen: „Kulturen blühen auf, wenn auf Fragen von heute Antworten von Morgen gegeben werden. Kulturen zerfallen, wenn für Probleme von heute Antworten von gestern gegeben werden.”
In politikökonomischer Perspektive spielen Institutionen eine bedeutende Rolle. Das Aushöhlen von Religion, Familie und Eigentum sowie der Marktwirtschaft bei gleichzeitigem Aufblähen einer bürokratischen, paternalistischen Staatswirtschaft, die mitunter autoritär das Leben der Menschen regelt, ist mit Prosperität nicht vereinbar. Der inzwischen permanente Krisenmodus und der Umgang mit einer Kette von Krisen scheinen bisher nicht Ausdruck erfolgreicher Politik und zunehmender Resilienz zu sein. Nicht nur rückwärtsgewandt, sondern in die Zukunft gerichtet gilt das auch für den staatswirtschaftlichen Umgang mit einer vermeintlichen klimatischen Apokalypse. Im Extrem: Wer Kinder kriegen als Belastung für die Umwelt darstellt, ist Opfer der Umwertung aller Werte.
Bemerkenswerterweise hat Toynbee politikökonomisch passend liberale Standpunkte vertreten, darunter Freihandel statt politischer Grenzen, ein partnerschaftliches und kooperatives Verhältnis zwischen Staaten, deren Wirtschaften so verbunden sind, dass der Anreiz einer territorialen Expansion verringert wird.
Damit Gesellschaften nicht verfallen muss es mit Toynbee einerseits Menschen geben, die die Herausforderungen verstehen und darauf geeignete Antworten geben, andererseits muss die Mehrheit bereit sein, diese geeigneten Antworten zu verstehen und zu akzeptieren. Das scheint ein Wechselspiel zu sein – die Geister, die die Bevölkerung rief, ermuntert von den maßgebenden Führungspersonen.
Ist das nicht der Fall, könnte das eintreten, was der Althistoriker Christian Meier für die späte römische Republik zur Zeit von Cäsar als „Krise ohne Alternative“ bezeichnet hat: Die alten Rezepte, Routinen, Praktiken und die Politik funktionierten nicht mehr, während neue, bessere nicht bekannt sind.
Heute liegt es indes nicht am mangelnden Wissen. Solange die Freunde von Freiheit, Recht, Leistung und Nächstenliebe schwach sind, bleibt das Thema gesellschaftlicher Verfall auf der Agenda.