„Daß Menschen eine eigene Sphäre beanspruchen, wird von der Macht nur selten respektiert.“ Deshalb liegt ein Schlüssel für die Begrenzung der Macht von Menschen über Menschen in der Privatsphäre. Wolfgang Sofsky wertet sie zur Privatheit auf. Privatheit wird zur „Zitadelle persönlicher Freiheit“.
Liberale sehen bislang vor allem im Privateigentum eine Säule der Freiheit. Ohne Privateigentum keine Freiheit, keine Marktwirtschaft, keine freie Gesellschaft. Das Eigentum einschließlich der Verfügungsgewalt ist ein Kern, wenn nicht das Fundament der Freiheit des Einzelnen. Wem diese Begründung zu ökonomisch ist, vielleicht auch rechtlich zu voraussetzungsreich, dem bietet Privatheit eine starke argumentative Alternative in enger Verwandtschaft. Privatheit genießt einen weiteren Vorteil – sie ist gleichermaßen aktuell wie allgemein verständlich. Eine Privatsphäre hat jeder und schätzt jeder.
Wolfgang Sofsky hat 2007 ein Buch publiziert, das 11 Jahre später in einer erweiterten Fassung via Amazons Independent Publishing nichts an Aktualität eingebüßt hat. Auch in 25 und 50 Jahren dürfte das noch der Fall sein – die Thematik ist wahrscheinlich zeitlos mit dem Menschsein verknüpft. Der Soziologe und Philosoph erhellt über die Perspektive der Privatheit die Bedeutung der Freiheit und ihre Herausforderungen: vom eigenen Körper über private Räume und Privateigentum bis zu Daten und Gedankenfreiheit.
Der Kampf um die Privatheit ist der Kampf um Freiheit, denn Freiheit bedeutet, sein Leben auf eigene Weise führen zu können, ohne unerbetene Einmischung von Dritten. Wo Privatheit herrscht, dort ist die Macht in die Schranken gewiesen. Geradezu angenehm an dieser Auffassung ist, dass Privatheit selbst als ein weit reichendes, aber begrenztes oder defensives Konzept erscheint. Privatheit umfasst „nur“ die individuelle Sphäre, bleibt auf das persönliche Umfeld des Menschen begrenzt, bedarf nach einer ersten Lesart nicht einmal der Abgrenzung zur Privatsphäre eines anderen Menschen, anders als Kants Vereinigung der Willkür mehrerer unter allgemeinen Rechtsgesetzen.
Wolfgang Sofsky betont zu Recht, paradoxerweise bedürfe die Verteidigung der Freiheit der Öffentlichkeit. Schließlich ist es nicht dem Einzelnen, sondern erst der Masse möglich, Privatheit gleichsam auf der Makroebene politisch zu erringen und zu verteidigen. Damit werden Unterschied und Nexus von Privatheit und öffentlicher Sache deutlich. In der res publica ist der übliche Schritt der von Konventionen zum Recht.
Das Buch „Privatheit“ ist ein Manifest der Freiheit, das vom Individuum aus gedacht ist und zunächst nicht über das Recht, sondern über Konventionen wie Anerkennung, Respekt und Rücksicht begreifbar ist, denen jedermann im eigenen Interesse zustimmen kann: „Durch die gegenseitige Anerkennung des Eigentums garantieren die Bürger ihre eigenen Privatsphären.“ Zugleich steht Privatheit nicht primär und nicht allein in einer konfrontativen Stellung zum Staat. Nicht nur auf dem Land kann die größte Bedrohung der Privatheit die neugierige Nachbarschaft sein.
Gleichwohl bedrohen öffentliche Bedienstete unter dem Rubrum Staat aufs schwerste das Private. In totalitären Regimen ist niemand nirgendwo sicher. Nicht nur in der DDR war der Inlandsgeheimdienst Bestandteil der Familie.
Weder das Recht noch der Rechtsstaat garantieren die Freiheit (des Privaten), sondern nur die „reale Geheimhaltung“ des Einzelnen, also dessen Privatheit, konstatiert Wolfgang Sofsky. Und an anderer Stelle lesen wir: „Frei ist, wer nicht angegriffen wird. Privatheit ist die Zitadelle der persönlichen Freiheit.“
Der nahe Göttingen lebende produktive Querdenker stellt eine Fülle fruchtbarer Verbindungen zu grundlegenden Fragen einer Ordnung der Freiheit her, etwa zur Emergenz einer freien Gesellschaft: „Nur wenn private Angelegenheiten den Menschen selbst überlassen bleiben, kann sich eine Vielfalt von Lebensformen entwickeln, die einer Gesellschaft Farbe und Dynamik verleihen.“ Eine zentrale Rolle spielt auch das Eigentum, dessen Aufhebung das Individuum zur öffentlichen Figur degradiere. Im Eigentum gewinne hingegen der Wille des einzelnen gegenständliche Realität. Der Mensch erlebe die Wirksamkeit seines Handelns und erfahre ein Bewußtsein der eigenen Entwicklung. Sätze, die zum Nachdenken einladen – in ihrer Grundsätzlichkeit und leider auch wegen ihrer Aktualität. Dazu passt die Mahnung: „Einem Volk, das Eigentum nicht anerkennt, fehlt der Sinn für die Freiheit.“ Soziale Gerechtigkeit lasse das Private unweigerlich erodieren.
Längst ist Information die „zentrale Machtquelle des modernen Verwaltungsstaates“. Sicherheit beruht auf der Kontrolle der Untertanen und der Transparenz ihrer Lebensverhältnisse. Privatheit hingegen ist eine Schutzzone. Das gilt auch gegenüber Nichtregierungsorganisationen: „Das Recht auf Privatheit schiebt dem Imperialismus der Religion einen Riegel vor.“
In dieser geradezu humboldtschen Perspektive treten die einzig legitimen Staatsaufgaben unverzerrt hervor: Schutz und Sicherheit. Nur die Aufgabe, Sicherheit vor Krieg und Verbrechen zu gewährleisten, legitimiert für Wolfgang Sofsky ein staatliches Budget. Ihm gilt Steuer treffend als Akt der Willkür, da sie nicht Zweck gebunden ist und der Staat vom Wesen her ein Verteiler und Verschwender sei. Steuern und Abgaben begreift er als Zwangsarbeit für den Staat.
Der kleine Band Privatheit enthält eine Fülle grundsätzlicher, klarer Aussagen mit geradezu definitorischem Charakter. Als philosophischer Soziologe hat Wolfgang Sofsky eine weitere Säule aus dem Stein gemeißelt, die zum Inbegriff der Freiheit werden könnte – gerade im digitalen Zeitalter. Privatheit ist ein gleichermaßen breiter wie präziser Ansatz, der Privateigentum mit einschließt und noch darüber hinaus reicht. Privatheit ist das, was Roland Baader als das einzig wahre Menschenrecht bezeichnete, nämlich in Ruhe gelassen zu werden.
Michael von Prollius
P.S. Für alle, die der Freiheit argwöhnisch gegenüber stehen, bietet Wolfgang Sofsky eine Denkhilfe: „Bosheiten sind nicht das Ergebnis der Freiheit, sie sind ihr Beweis.“