Spektakel statt Substanz dominiert die Gesellschaft
Spektakel statt Substanz dominiert die Gesellschaft

Spektakel statt Substanz dominiert die Gesellschaft

Der peruanische Literaturnobelpreisträger hat etwas zu sagen und mischt sich politisch ein. Ein permanentes Spektakel habe die Kultur ersetzt, wenn nicht zersetzt. Im spanischen Original heißt der Titel passend: „La civilizaçión del espectáculo“ und das einführende Kapitel ist mit „Metamorphose eines Wortes“ betitelt. Dort formuliert der adjektivlose Liberale sein Anliegen in einem Schlüsselsatz: „Der wesentliche Unterschied zwischen der vergangenen Kultur und dem heutigen ‚Entertainment’ ist, dass früher ein Werk beanspruchte, die Gegenwart zu transzendieren und zu überdauern, in den kommenden Generationen lebendig zu bleiben, während die neuen Produkte hergestellt werden, um augenblicks, wie Kekse oder Popcorn, konsumiert zu werden und zu verschwinden.“
„Alles Boulevard“ ist weit entfernt vom simplen Narrativ des Kulturverfalls oder einer Konsumkritik. Weder wird entlang einer Geschichtsphilosophie eine vermeintliche zwangläufige Verfallsentwicklung ausgebreitet, noch wird einseitig ein klassisches Bildungsideal idealisiert. Vielmehr kritisiert Mario Vargas Llosa perspektivenreich Halbkultur und Unkultur angesichts einer Überlagerung unseres Lebens durch permanente Ablenkung in Form marktschreierisch beworbener Unterhaltung. Sicherlich lässt sich treffend darüber streiten, ob und inwieweit der peruanische Schriftsteller und Politiker mit europäischem Lebensmittelpunkt mit seinen Einschätzungen richtig liegt. Letztlich ist das eine Frage des persönlichen Standpunkts, des individuellen Geschmacks, der Weltanschauung. Zugleich lässt sich die Kernthese hinterfragen:

  1. Für Mario Vargas Llosa ist Kultur per se etwas Elitäres. Wenn dem so ist, dann ist die heutige Massenunterhaltung indes der falsche Bezugspunkt. Der Wert der Unterhaltung beschränkt sich auf das Ablenken, auf den Moment und ist – wie auch immer die Bezeichnungen einer populären, lediglich vermeintlichen Kultur lauten, wie auch immer die Versuche der Umwidmung des Wortes Kultur voranschreiten – weder eine Konkurrenz zur klassischen Kultur noch geeignet an deren Stelle zu treten. Mit anderen Worten war in dieser Perspektive echte Kultur schon immer elitär und bleibt es auch heute. Kultur beschränkt sich dann wie Bildung auf einen kleine, möglicherweise gewachsene Zahl von Menschen, die fähig sind, Werke zu schaffen, die einen zeitlosen Wert besitzen.
  2. Vielleicht schüttet der Nobelpreisträger mit seiner Kritik der Massenunterhaltung das Kind mit dem Bade aus. Nicht alles, was massentauglich ist, muss zeitgebundener Konsum sein, und nicht alles, was kompliziert und nur einem kleinen Teil der Menschheit zugänglich ist, muss Kultur sein. Kultur ist nicht autoritativ bestimmbar. Im elitären Sinne handelt es sich um das, was eine kluge Gruppe von Menschen dazu erklärt, und auch die sitzt Moden, Vorlieben und einem Gruppengeschmack auf. Es gibt zeitlos gute Filme, epochale Musik, Virtuosität moderner Künstler, die massentauglich sind und archetypische Themen darbieten, die die Menschen bewegen, die über ihre Kontextgebundenheit hinaus etwas Dauerhaftes aufweisen. In Frage kommen beispielsweise Casablanca und Der Pate, die Beatles und Jimmy Hendrix, Pablo Picasso und Ansel Adams.

Am Beispiel der Ökonomen, die bei Mario Vargas Llosa zu kurz kommen, wird deutlich, wie sehr die persönliche Spezialisierung den Kulturbegriff bestimmt. Unverzichtbarer Bestandteil eines Weltkulturerbes sind große Ökonomen, insbesondere wenn sie Sozialphilosophen waren, von Adam Smith bis John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek. Sie haben sich zeitweise stärker in gesellschaftspolitische Debatten eingebracht als andere Intellektuelle. Indes scheint deren Stimme heute tatsächlich eine weitaus weniger bedeutende Rolle zu spielen. Zugleich ist Politikerschelte ein zeitloses Phänomen, das nicht auf die Demagogos der griechischen Antike beschränkt ist. Persönlichkeiten wie Churchill sind und bleiben Ausnahmeerscheinungen, das gilt auch für ihre Bildung und Arbeitsleistung.
Zum Ende franst „Alles Boulevard“ etwas aus. Die Kultur-Perspektive wirkt überstrapaziert. Ob der Hedonismus die Menschen so sehr dominiert, dass er das Zusammenleben der Menschen und den Menschen selbst deformiert, scheint angesichts der globalen Arbeitsteilung, Reisetätigkeit und Verbundenheit von Menschen fraglich. Die proportionierlichste Bildung der Kräfte ist nicht jedermann gegeben. Massentourismus und der globale Filmstart von Star Wars halten die Masse der Menschen aber nicht von tiefgreifenden Gesprächen über die Ulysses von Joyce ab. Diskutabel erscheint in Fortsetzung des Verhältnisses von Kultur und Massengesellschaft, ob wir in Zeiten des Terrorismus tatsächlich anfälliger geworden sind oder nicht auch robuster. Das ist eng verbunden mit der Frage, ob die realen Verhältnisse oder der Konstruktivismus, unsere interpretative Sicht der Dinge, die Welt bewegt. Damit schießt sich der Kreis: Wer bestimmt den Gang und vor allem Gehalt der Dinge: gebildete Eliten oder Spektakel affine Massen?
Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Erstauflage 2012 Suhrkamp, Taschenbuchauflage Berlin 2014, 231 S., Euro.
Michael von Prollius