Vorwärts Journalisten, wir müssen zurück!
Medienkritik aus Sorge um die Medien und die Demokratie. Die Publizisten Precht und Welzer wollen mit ihrer Medienkritik eine Debatte anstoßen, setzen tatsächlich eher in einer längst laufenden Debatte einen Akzent. Sie tun das als Teil des Establishments, als Linke, mit einem Buch wie das früher für öffentliche Debatten kennzeichnend war, als Publizisten, in etablierter Weise mit zahlreichen Verweisen auf Studien, Publikationen, Autoritäten, die ihr Narrativ illustrieren. Ihr Beitrag ist willkommen und regt zur Diskussion an. Wer sich als einer der „profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum“ bezeichnet, der darf sich mit der Bewertung auseinandersetzen: Das Buch enthält wenig Neues, und was neu ist, ist nicht gut.
Befunde und Argumente sind sehr konventionell für politisch interessierte Menschen mit Zugang zu Fachexpertise: Das Medienvertrauen ist stark gesunken. Journalisten wollen nicht mehr ihren Job machen, sondern Politik gestalten. Die etablierten Medien treten uniformiert auf und moralisieren, noch dazu Effekt heischend. Ihrer Informationsfunktion und Integrationsfunktion werden die Medien nicht mehr gerecht. Medien wurden (erneut) zum Spielball von Macht- und Geschäftsinteressen, betreiben Hofberichterstattung. Politik wird über mediales Agendasetting betrieben. Die Demokratie hat zahlreiche Defizite, darunter ein Repräsentationsproblem. Personalisierung statt Sachthemen haben eine Galapublizistik entstehen lassen. Soziale Medien sorgen für problematische Beschleunigung und für Niveauverlust. Medien kreisen um sich selbst, eine politische Medienblase ist entstanden. Es braucht Leitmedien, die nicht wie Direktmedien funktionieren dürfen und Lösungsjournalismus betreiben sollten. Es gilt eine Infrastruktur zu schaffen. Ein öffentlich rechtlicher Europafunk soll es richten. Zehn kritische Kapitel, ein Lösungsvorschlag, wenig substanzielle Analyse, viel wohlfeiles Mahnen: Vertrauen wieder herstellen, Vertrauen!
Ich mag es regelmäßig nicht, wenn Kritik geübt wird an dem, was in einem Buch nicht steht. Bei Precht-Welzer scheint mir das erhellend zu sein, weshalb ich auf folgende ausgewählte Lücken hinweise:
1. Mangelnde systematische Analyse: Die sozialen Medien gelten als revolutionär wie der Buchdruck. Precht-Welzer betreiben überwiegend Symptom-Kritik und wollen zur guten alten Zeit der Leitmedien zurück.
2. Das Internet eröffnet den weltweiten Zugang zu profunder Fachexpertise. Journalisten bieten lediglich einen Beitrag unter vielen und sind erstmals potenziell für jedermann sichtbar, nicht nur für Fachleute, inhaltlich fehlerhaft mit ihrer per se standpunktabhängigen Arbeit.
3. Der exponentielle Anstieg von Informationen und Wissen, die Möglichkeit zur Vernetzung von Gleichgesonnenen und -interessierten kann eine Heterogenisierung von Öffentlichkeit befördern, die nicht mehr unter das Dach einer Mehrheitsmeinung von und für 80 Millionen Menschen passt, die es schon bei linker, konservativer und ein wenig liberaler bundesrepublikanischer Presse kaum gab.
4. Berichte werden seit Jahrzehnten wesentlich von Agenturen bestimmt, von fachunkundigen Redakteuren zusammengestellt, mit Blick auf große Konkurrenten und angenommene Bedürfnisse von Durchschnittslesern statt Fakten wie exemplarisch bereits 2006 Joris Luyendijk über seine Jahre lange Tätigkeit als Auslandskorrespondent kurzweilig berichtete.
5. Eine antikapitalistische Grundhaltung prägt die Precht-Welzer-Medienkritik: Nachrichten müssten leider verkauft werden; Kommerzialisierung sei schlecht, Soziale Medien trieben den Verfall zusätzlich an, daher helfe eine letztlich staatliche, scheinbar kostenlose Einrichtung. Das ergibt wenig Sinn. Der Zeitungsmarkt lebte vor 100 Jahren, in einer Zeit mit mehreren Ausgaben einer Zeitung pro Tag, von Unglücken, Verbrechen, Skurilitäten, politischen Skandalen. Die Kosten sind in Staatsbetrieben höher, die Entfernung vom Publikum ist weiter, die Abschottung und Nabelschau der Medienelite keineswegs kleiner, der disziplinierende und entdeckerische Wettbewerb fehlt.
6. Eine substanzielle Lücke klafft beim Linksrutsch der Medien, beim linken Kulturkampf, bei der Erosion von Institutionen ohne Ersatz, bei der antiliberalen Ausgrenzung Andersdenkender und deren zuweilen lächerlich wirkender Etikettierung als rechtsradikal – von maßstabsgetreu dann offenbar Linksradikalen.
Die Schlagseite der Medienkritik von Precht-Welzer verwundert nicht. Der Verlag bekennt sich auf Seite 4 zur „nachhaltigen Buchproduktion“, setzt sich für eine „klimaneutrale Buchproduktion“ ein mit Klimazertifikaten. Ob aus kommerziellen oder ideologischen Gründen bleibt offen.
Ein wirklich pluralistische Gesellschaft kommt ohne Mehrheitsmeinung, ohne Leitmedien, ohne führende Intellektuelle aus. Wir leben in einer Übergangszeit. Eine neue Informationsinfrastruktur entsteht. Es gibt keinen Weg zurück.
Richard David Precht und Harald Welzer: Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022, 288 S., 22,00 Euro.