Warnung vor dem Neofeudalismus – Buch
Es heißt durch das Nachdenken über das, was man gelesen hat, wird man klüger. Ich rätsele noch wie mir das bei diesem Buch gelingt. Vielleicht liegt der Schlüssel in der Erwartungsdiskrepanz.
Der Titel triggerte Erwartungen und knüpfte an eigene Gedanken und Eindrücke an. „The Coming of Neo Feudalism“ habe ich mit meinen Überlegungen zu einem Systemwechsel verbunden und hoffte weiter gehende und tiefer reichende Informationen, vielleicht Theorien und Modelle und Quellen zu finden. Das Ergebnis: drei Mal Fehlanzeige. Joel Kotkin hat in kurzen Essay ähnlichen Abschnitten, die zu Kapiteln zusammengestellt wurden, eine relativ simple These ausgebreitet, ohne sich zu bemühen, diese zu belegen. Modelle sollen in reduzierter Form die Realität abbilden. Ein klares Modell gibt es nicht, wie etwa früher zur Technostruktur, eher lose Bezüge zum Feudalismus. Theorien und Empirie fehlen völlig – und das bei 100 Seiten Anhang mit umfangreichem Endnotenapparat und Register bei nur 170 Seiten Text. Zugleich ist das Buch sehr ansprechend aufgemacht.
Joel Kotkin, ein Fellow in Urban Studies an der privaten Forschungsuniversität Chapman University in Kalifornien, entwirft folgendes Panorama: Tech-Oligarchen haben einen großen Teil des Reichtums usurpiert und propagieren einen sozial-demokratischen Wohlfahrtsstaat mit Grundeinkommen und verfügen über wachsende Überwachungsfähigkeiten. Sie werden unterstützt von der Klasse der Hochschullehrer, Lehrer, Bürokraten und NGO-Aktivisten, die Intoleranz im Namen der Toleranz praktizieren, mit den bekannten Mitteln von politischer Korrektheit bis Klima-Religion, und faktisch ihren Herren, den Oligarchen, dienen. Die Mittelklasse muss die Lasten dieser Herrschaft tragen, verliert Wohlstandsanteile und Aufwärtsmobilität. Außerdem gibt es noch die modernen Leibeigenen, die arbeitende Klasse.
Wer kommt nicht vor? Eine Definition von Neo-Feudalimus. Der Staat und die Regierungen. Die Zentralbanken. Die herkömmlichen Industrie- und Dienstleistungsbetriebe sowie deren Verbände. Der militärisch-industrielle Komplex. Die vielfältige Staaten-Welt. Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als unterschiedliche Pfade. Und vieles mehr. Bis auf oberflächliche Statistikhinweise kommen auch keine Daten vor, um die neofeudale geschichte zu stützen.
Kotkin schreibt in einer sehr kalifornisch anmutenden Sicht, die hinsichtlich Autoritarismus-Begeisterung und Tech-Herrschaft heute etwas angestaubt wirkt. Der Blick auf Wohlstand und Ungleichheit wirkt statisch, typisch unökonomisch. Kotkins Position klingt nach einer post-progressiven Position, die die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte einteilt. Sein Narrativ erinnert an die sogenannter Trendforscher, moderner Märchenerzähler. California Dreaming.
Joel Kotkin: The Coming of Neo Feudalism. A Warning to the global middle class, Encounter Books, New York 2020, 274 S, Hardcover 24,47.