Bürokratisierung und Humanismus
Bürokratisierung und Humanismus

Bürokratisierung und Humanismus

Bürokratisierung und Humanismus

Seit der Aufklärung sind in Europa die Ideen des Humanismus und der Entfaltung der Individualität als Ausdruck spezifischer Bedürfnisse und Eigenheiten, die „proportionierlichste Bildung der Kräfte“ (Wilhelm von Humboldt) und ein „passendes Leben“ (Remo H. Largo) Konzepte eines menschenwürdigen Lebens. Nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und dem folgenden ideologischen Welt- und Vernichtungskrieg ist die unantastbare, unveräußerliche Würde des Menschen ein omnipräsentes, kodifiziertes Gut.

Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaftslehre für die Arbeitswelt und andere Disziplinen und Praktiken befassen sich mit den Voraussetzungen und Bedingungen eines gelingenden Lebens, privat oder beruflich. Heerscharen von Psychologen, Trainern und Coaches liefern Beiträge zur Verbesserung des alltäglichen Miteinanders. Entscheidend bleibt die Familie, relevant sind Schulen und schließlich der Arbeitsalltag.

Das ist die abstrakte, die allgemeine Ebene. Relevant wird es für die Betroffenen im konkreten Lebensalltag. Das gilt für Schüler in den Schulen. Pädagogische Ausbildung und Anforderungen für die Lehrer gibt es in hinreichendem Ausmaß. Sind indes die Bedingungen in einer Klasse mit 20 oder 30 Schülern geeignet für eine individuelle Entwicklung von 20 oder 30 individuellen, heranwachsenden Persönlichkeiten? Sind die Standards im Bildungskanon und das Messen des Abstands zu den vorgegebenen Zielen (mit Zeugnissen) geeignet, selbstbewusste Individuen hervorzubringen, die auf ihre jeweiligen Talente vertrauen und diese individuell, auch zeitlich, entwickeln? Sind die Bedingungen in den Klassenräumen, Schulgebäuden und auf den Toiletten geeignet, die Schulzeit als bereichernden, beflügelnden Teil des Lebens anzusehen?

In privatwirtschaftlichen und staatlichen Bürokratien ist in den letzten Jahrzehnten eine Verrechtlichung zu beobachten. Dazu zählen zahlreiche Beauftragte und Interessengruppenvertreter, Räte und Gremien, die mitunter als Beteiligungsorgane bezeichnet werden sowie festgelegte Verfahren des Personalwesens, die nicht zuletzt zahllosen staatlichen Vorgaben folgen. Ein hehres Ziel ist Gerechtigkeit, eher Gleichheit, in der Behandlung, etwa bei Bewerbung und Auswahl. Darauf wird strikt geachtet. So strikt, dass in Bewerbungsgesprächen ein standardisiertes Verfahren etabliert werden kann, bei dem man fragen kann: Inwiefern ist Raum für Individualität, für persönliche Atmosphäre und menschlichem Umgang zum Kennenlernen? Ersetzen Zertifikate die Anstrengung, jemanden persönlich einzuschätzen? Kann es sein, dass das Verfahren zum Selbstzweck wird, roboterhaft, maximal transparent, technokratisch? Das wäre vermutlich keine Absicht, aber absehbar und kontraproduktiv. Dann würde gelten: Humanismus – Fehlanzeige.

Dieser Trend dürfte weitergehen, entsprechende Menschen anziehen und in diesen Organisationen eine selbstverstärkende Mechanik begünstigen, die hoffentlich nicht auf weitere Teile der Gesellschaft überschwappt. Letztere erscheint leider als Teil der allgemeinen Bürokratisierung wenig wahrscheinlich.