Warum scheint die Demokratie in Deutschland und dem Westen insgesamt mehr oder minder defekt zu sein? Warum entspricht das deutsche Parteiensystem allenfalls partiell den Präferenzen vieler Bürger? Warum haben sich die sogenannten politischen Eliten von der normalen Bevölkerung abgekoppelt?
Diese Fragen stehen erst seit wenigen Jahren im Raum. Verschiedene hellsichtige Beobachter haben aktuell, aber auch bereits vor Jahren, mitunter Jahrzehnten Ursachen identifiziert, darunter
- den Niedergang des Nationalstaats als natürlichem Raum für eine parlamentarische Demokratie (Ralf Dahrendorf),
- den Irrweg des Wohlfahrtsstaates, in dem sich die Mündel von ihren Vormündern verlassen fühlen (Thomas Mayer),
- die Trennung der Bevölkerung in regional verwurzelte „Somewheres“ und international mobile „Anywheres“ (David Goodhart),
- einen Mimikry-Prozess, der in Mehrparteiensystemen zur Angleichung der Parteien führt, die sich mit Sozialutopien befassen (Anthony Downs).
Der frühere Chefredakteur von Radio Free Europe und Redenschreiber Margaret Thatchers John O’Sullivan diagnostiziert außerdem eine zunehmende Machtverschiebung, weg von gewählten Institutionen, insbesondere den Parlamenten, hin zu teilweise unabhängigen, nicht gewählten EU-Bürokratien. Eine zentrale Verantwortung für diesen Prozess würden nationale Politiker tragen, die ihre Interessen durch das Spiel über EU-Bande verfolgen und Wählerinteressen ignoriert hätten.
Das Ergebnis sei mit John Fonte eine Postdemokratie und Populismus eine antiliberale, demokratische Antwort auf das undemokratische Gebaren der Eliten, gleichsam eine Re-Politisierung. Zudem sei die Demokratie zu einem Statusspiel verkommen. Es komme nur noch auf ein gutes (Status-)Gefühl bei den gewählten Kandidaten an. Inhalte spielten eine nachrangige Rolle.
Stellvertretung als strukturelles Problem
Mit „Macht und Stellvertretung“ hat Wolfgang Sofsky nun eine gleichermaßen konsequent strukturierte wie tiefgründige Untersuchung als 130 Seiten Essay vorgelegt.
Der Ursprung der Entfremdung liegt demnach in der Ernennung von Stellvertretern. Das gilt für Parteien und Abgeordnete genauso wie bei privaten Institutionen, darunter Vereine und andere Interessengemeinschaften. Der Entfremdungsprozess erstreckt sich von der Bevollmächtigung über die Formalisierung und Arbeitsteilung bis zur Beherrschung der einstigen Beauftragenden. Wer nicht selbst entscheidet, über den wird entschieden.
Der Prozess der Stellvertretung führt in der Politik systemimmanent zur sozialen und politischen Herrschaft – „Vertretung verwandelt sich in das Gegenteil ihrer selbst.“ Von den Beauftragenden wird schließlich Gefolgschaft, ja Willfährigkeit eingefordert. Die Wähler bevollmächtigen nicht länger einen Vertreter, sondern tauschen „fügsam ihre Stimmabgabe gegen die vage Hoffnung, anschließend tatsächlich vertreten zu werden.
“ Die hierarchische Organisation beendet den Transformationsprozess und entscheidet die Machtfrage: der Apparat ist zum Souverän geworden. Die Wähler sind nur noch das Publikum im politischen Theater. Wer seine Souveränität abgibt wird beherrscht.
Für die Demokratie gilt nach Wolfgang Sofsky, dass Mehrheitsregimen die Tendenz zum Populismus innewohne und sie Gefahr laufen, sich in eine Tyrannis der Mehrheit zu entwickeln. Das liegt auch daran, dass Stellvertretung Handeln für ein Publikum ist. In einem Apparat werden Mitglieder zu einem Mittel der Politik.
Kompromisse sorgten für Fügsamkeit. Das Publikum werde zum Werkzeug. Die Zweck-Mittel-Relation der Stellvertretung drehe sich um. Das Publikum der Wähler werde zum Machtmittel ihrer Repräsentanten im politischen Theater. Dabei beginnen die Stellvertreter zu glauben, was sie sagen und versprechen. Sie würden lügen ohne es zu wissen. „Sie meinen für andere zu sprechen, sprechen aber nur für sich selbst.“ Erst der Selbstbetrug ermögliche den sozialen Betrug.
Zur überaus klaren Ausarbeitung der Eigenheiten und Risiken von Stellvertretung mit dem Blick auf die Macht gehört auch die Kategorisierung des Publikums, darunter Parteisoldaten, Wächter und Beobachter. Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert beginnend mit der Struktur der Stellvertretung und anschließend Vertretungsmuster, umfasst Organisation, Regeln, Publikum und Rhetorik der Repräsentation und reicht bis zu Transformation und Revolution.
Wie bereits bei „Privatheit“ lohnt sich die Lektüre Seite für Seite. Mit „Macht und Stellvertretung“ bewegt sich der profilierte Analytiker auf seinem ureigenen Terrain – der Analyse sozialer Macht und der Bedrohung der Freiheit. Klarheit, Systematisierung, Sinn für das Wesentliche und Alltägliche verbindet sich bei Wolfgang Sofsky mit sprachlicher Präzision und Verständlichkeit für jederman. Geradezu en passant untermauert, veranschaulicht und erweitert Wolfgang Sofsky wichtige Erkenntnisse der Public Choice Theorie.
Was die Eingangsfragen betrifft, so lässt sich die These aufstellen, dass wir uns in einem späten Stadium der Stellvertretung befinden, in dem einerseits die Gefolgschaft der Parteisoldaten orchestriert wird und andererseits eine Transformation durch Abwanderung des Publikums bei erheblichem Glaubwürdigkeitsverlust der Stellvertreter zu beobachten ist.
Eine Veränderung der herrschenden sklerotischen Verhältnisse dürfte schwerlich möglich sein, zumal sich am strukturellen Problem der Stellvertretungsmacht nichts ändern lässt. Allerdings könnten strukturelle Staatsreformen Positives bewirken, darunter die Begrenzung vom Amtszeiten, das Einführen von Losverfahren und die Berücksichtigung verschiedener Elemente einer Verfassung der Freiheit wie sie beispielsweise Friedrich August von Hayek skizziert hat.
Wer der Ansicht ist, dass das politische System gehöre vom Kopf auf die Füße gestellt, blickt vielleicht nach Frankreich. Dort gründete man wiederholt eine neue Republik. In Deutschland scheint eine grundlegende Erneuerung nach 70 Jahren erstrebenswert – eine erforderliche Neuordnung des Verhältnisses zur EU macht die Stellvertretung nicht einfacher, aber noch dringlicher.
Michael von Prollius
Literatur: Wolfgang Sofsky: Macht und Stellvertretung, independently published, London, Leipzig, Wroclaw 2019, 132 S., 9,80 Euro.