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Eine Untersuchung von Helmut Krebs
In seinem Grundlagenwerk „Die Verfassung der Freiheit“1 definiert Friedrich von Hayek den fundamentalen Begriff in den ersten Passagen als Abwesenheit von Zwang. Zwang nun wieder ist das Gegenteil der Freiheit. Freiheit ist also das Gegenteil des Gegenteils – eine leere Tautologie. Natürlich begreifen wir umgangssprachlich, was Zwang ist und begreifen daraus auch sein Gegenteil, das Fehlen von Zwang. Aber philosophisch ist dies natürlich keine Definition, die zufrieden stellen kann.
Hayek kommt nach über hundert Seiten2 wieder auf die Frage zurück und liefert eine ausführliche Definition nach. Dies ist bemerkenswert, zeigt es doch die begriffliche Schwierigkeit, an der sich selbst große Denker abarbeiten.
Aus meiner Sicht liegt dies daran, dass der Begriff sowohl philosophisch als auch umgangssprachlich mehrdeutig ist. Ziel meiner Untersuchung soll sein, ihn nach seinen Bedeutungsebenen zu zergliedern und dadurch eine einfache Definition zu liefern.3
Umgangssprachlicher Zugang – äußere Freiheit
Wir nennen Zwang, wenn unser Handeln durch äußere Mächte in Bahnen gelenkt wird, die unseren Zielen widersprechen.4 Freiheit wäre dann, gemäß unseren Zielen zu Handeln. Äußere Mächte sind andere Menschen, deren Wollen auf unser Handeln gerichtet ist, die wollen, dass unser Handeln bestimmte Folgen hat und die demgemäß handeln. Die natürlichen, außermenschlichen Faktoren, die mein Handeln einschränken, nennen wir nicht Zwang, sondern Notwendigkeit. Wenn wir erkranken, so „zwingt“ uns „die Krankheit“ zur Bettruhe. Die Anführungszeichen signalisieren die metaphorische Ausdrucksweise. Natürlich ist „die Krankheit“ kein handelndes Subjekt und folglich „zwingt“ sie nicht, sie handelt nicht. Es ist, in richtiger Ausdrucksweise, eine Handlungsbedingung, die meine Handlungsalternativen einschränkt: Meine Krankheit macht es notwendig, dass ich im Bett bleibe statt zu arbeiten. Anders verhält es sich im Fall einer Inhaftierung. Hier handeln Menschen, indem sie auf andere einen Zwang ausüben, der ihnen die Freiheit nimmt, sich nach ihren Wünschen zu bewegen.
Objektive Bedingungen, die Handlungsmöglichkeiten einschränken, ohne dass dies direkt beabsichtigt ist, nennen wir Notwendigkeit. Solche, die dies beabsichtigen, nennen wir Zwang. Sich den Notwendigkeiten entsprechend zu verhalten, heißt nicht, unfrei zu sein. Sich Zwang beugen zu müssen, heißt unfrei sein.
Die Unterscheidung ist nur auf den ersten Blick einfach. Wir nannten die objektiven Bedingungen eingangs in umgangssprachlichem Ausdruck „natürlich“, um damit die Nichtintentionalität auszudrücken. Aber die Handlungen der Mitmenschen sind für jeden Einzelnen objektive Bedingungen, Data, die seinem Handeln Grenzen setzen. Auch in freiwilligen Handlungsakten reagieren wir auf die Handlungen anderer. Ein Käufer kann nur im Rahmen des Preisangebotes des Verkäufers in den Tausch einwilligen. Das Preisangebot des Verkäufers ist keinesfalls nichtintentional. Mit ihm versucht er, den Käufer zu einem Handel zu leiten, der für ihn vorteilhaft ist. Aber dürfen wir das Zwang nennen? Nicht, wenn der Käufer die Wahl hat, vom Kauf abzusehen. Er wird in ihn einwilligen, wenn er auch einen Vorteil darin sieht. Er wird handeln, wenn er es will. Seine Handelnsfreiheit ist uneingeschränkt.
Die Ergebnisse des Handelns seiner Mitmenschen sind für den Einzelnen objektive Bedingungen, Data. Preisforderungen des Verkäufers schränken den Käufer ein. Er kann nur im Rahmen dieses Angebotes einwilligen. Seine Handlungsmöglichkeiten sind durch die Willkür des Anderen verringert. Nur wenn eine Notwendigkeit als Bedingung hinzuträte, die gegen den Willen des Käufers den Kaufabschluss herbeiführt, dürfen wir von Zwang sprechen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn das Kaufangebot eine unverzichtbare Ware beträfe, die von einem Monopolisten angeboten wird. Dies ist unter realistischen Bedingungen schwer vorstellbar, etwa, wenn alle Nahrungsmittel nur in einem Ladengeschäft zu erwerben sind, sodass die Käufer vor die Wahl gestellt sind, zu bezahlen, was gefordert wird, oder zu verhungern. Ganz realistisch ist der analoge Fall, wenn eine Mafia Schutzgelder unter der Drohung von Gewaltanwendung erpresst.
Definitionen:
Möglichkeit und Notwendigkeit sind zwei unterschiedliche Modi der äußeren Bedingungen.
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Die objektiven Gegebenheiten schaffen Notwendigkeiten und lassen nur bestimmte Möglichkeiten zu. Diese Einschränkungen sind an sich kein Zwang.
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Wünschen berücksichtigt weder Möglichkeit noch Notwendigkeit.
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Wollen berücksichtigt beides bei der Wahl von Ziel und Mittel.
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Zwang schränkt die Handlungsmöglichkeiten ein und erhöht die Notwendigkeiten künstlich über das spontan gegebene Maß hinaus. Unter Zwang zu handeln heißt, vom Zwangausübenden erwünschte Handlungsergebnisse erbringen zu müssen, die dem eigenen Wunsch widersprechen.
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Freiheit bedeutet, nach eigenem Wollen handeln zu können.
Das Wollen – die innere Freiheit
Wenn der Henker den Verurteilten fragt, ob er lieber geköpft oder gehenkt werden will, und ein drittes ist ausgeschlossen, dann liegt ein Fall extremen Zwanges vor. Dennoch ist die Freiheit nicht gänzlich erloschen. Noch immer besteht eine Alternative. Noch immer kann der zum Tode verurteilte wählen. So lange ein Mensch wählen kann, ist er frei. Ein Mensch, der seine Todesart wählen kann, heißt frei im Sinne einer inneren Freiheit. Im Sinne der äußeren Freiheit steht er unter Zwang, ist unfrei. Gleichzeitig frei und unfrei zu sein, ist ein logischer Widerspruch, der sich nur auflösen lässt, wenn wir es mit zwei Bedeutungsebenen desselben Wortes zu tun haben. Die äußere Unfreiheit besteht darin, ein Ziel aus Alternativen zu wählen, die beide dem Ziel des Zwangausübenden entsprichen, die aber der Handelnde ohne diesen Zwang nicht wählen würde. Wir nennen eine solche Entscheidung Dilemma. Dilemma ist eine Entscheidung zwischen zwei Übeln.
Ein ähnliches Dilemma kann sich einem Menschen stellen, wenn er erfährt, dass er in absehbarer Zukunft an einer unheilbaren Krankheit sterben wird. Er kann nicht wählen, über diesen Zeitpunkt hinaus zu leben, auch wenn er sich dies wünscht. Er kann nur entscheiden, ob er es dem Selbstlauf überlässt oder das Ende beschleunigt. Aber diese Wahl bleibt ihm noch. Er ist noch frei. Er unterliegt keinem (äußeren) Zwang. Wir sprechen von Schicksal.
Definitionen:
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Innerlich frei ist ein Mensch, der zwischen Handlungsalternativen wählen kann.
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Äußerlich frei ist ein Mensch, der innerlich frei ist, wenn er keinem Zwang ausgesetzt ist.
Die Bedingungen der inneren Freiheit
Wählen bedeutet, die Ziele und die Mittel des Handelns zu bestimmen.5 Dies setzt voraus, dass Alternativen bestehen, dass die Wahl selbst autonom erfolgt, also selbstbestimmt, und dass die Bedingungen des Handelns begriffen und verstanden werden, soweit dies möglich ist. Wählen bedeutet, sich alternative Ideen vorzustellen und sie in eine Rangordnung zu stellen. Das setzt voraus, dass der Mensch über Intelligenz verfügt, also dass er geistig gesund ist und dass er wenigstens über rudimentäres Weltwissen verfügt, das sich auf die konkreten Handlungsbedingungen bezieht. Ein Blinder tappt in die Falle. Er kann dies nicht absichtlich tun. Wenn er absichtlich in die Falle tritt, dann ist er nicht getappt, sondern getreten.
Die Willensfreiheit
Kant war der Meinung, dass die Freiheit die Wesensart und Seinsbestimmung des Menschen selbst ist. Daher war für ihn auch die Freiheit des Denkens die erste Voraussetzung humanen Lebens. Willensfreiheit ist ein Begriff, der in diesem Zusammenhang viel Verwirrung anstiftet. Willensfreiheit kann logisch widerspruchsfrei nur als Handlungsfreiheit gedacht werden. Handlungsfreiheit ist die Möglichkeit, entsprechend dem eigenen Wollen zu handeln, also nicht unter Handlungszwang zu stehen. Es kann nicht bedeuten, ohne Berücksichtigung der äußeren Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu tun, was beliebt. Zu den äußeren Möglichkeiten und Notwendigkeiten zählen für das denkende Ich auch die Bedürfnisse des Leibes und die Ordnung der eigenen Weltanschauung. Für das wählende Ich sind die Konsistenz mit der eigenen Denkweise eine Notwendigkeit. Daraus rührt die Resistenz der Menschen gegen neue Gedanken.
Auch die Gesetze der Logik und die Verstandeskategorien (Raum, Zeit, Kausalität usw.) sind Bedingungen des rationalen Denkens und damit des Wollens. Das Wollen ist Urteilen und damit rationales Denken. Nichtrationales Denken nennen wir nicht denken, sondern z.B. träumen, empfinden, erinnern.
Wenn wir Willensfreiheit verstehen als die Freiheit, in der gleichen Gegenwart des Denkens das eine und das andere zu wollen, so erzeugen wir eine begriffliche Verwirrung. Unser Wollen richtet sich auf das Handeln, das an Möglichkeiten und Notwendigkeiten gebunden ist. Es drückt sich aus in der Wahl von Zielen und Mitteln zur Erreichung dieser Ziele, die selbst wieder unter Berücksichtigung innerer Notwendigkeiten gewählt wurden.
Letztlich beruht das Wollen auf Werturteilen, die uns bewusst werden. Werturteile sind Ideen, in denen sich ausdrückt, was dem Handelnden gut dünkt. Die Werte, d.i. die Inhalte unserer Urteile, sind aber nicht beliebig und voraussetzungslos: Sie entspringen einem Zustand des Unbefriedigtseins, das dem Denken gesetzt ist und reagieren auf dieses. Wir haben Hunger, Langeweile, empfinden einen starken Wunsch. Die Inhalte dieser Sehnsüchte und Bedürfnisse sind existenziell gegeben. Sie beruhen auf allgemeinen und persönlichen Gegebenheiten des Körpers und des Geistes. Wir wollen immer das Gute oder Bessere nach Maßgabe unserer Erkenntnis und Einsicht. Das Unbefriedigtsein und die Gründe desselben gehen dem Denken des Handelnden voraus. Sie sind Data des Denkens. In weiteren Handlungsakten können sie sich verändern, aber nicht innerhalb eines Denkaktes. Dies anzunehmen führte zu Zirkelschlüssen.Wir können nicht beliebig wollen. Ein Wollen des Wollens ist eine absurde Idee.
Definition:
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Willensfreiheit ist Handlungsfreiheit ist eigenes selbstbestimmtes Wollen.
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Wollen ist ein einfacher und basaler Begriff, der die bewusste Wahl eines Zieles mit den geeigneten Mitteln zur Erreichung dieses Zieles bedeutet.
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Das Ziel des Wollens bezieht sich auf die Behebung eines Unbefriedigtseins, das uns gegeben ist, das dem Denken gesetzt ist.
Die Entfaltung der äußeren Freiheit – Liberalismus
Liberalismus bedeutet eine Ideologie, deren oberstes Prinzip die Vermehrung der Handlungsmöglichkeiten des autonomen Individuums ist. Freiheit ist also sehr alltagspraktisch die Folge einer privilegienlosen Erweiterung des Handlungsspielraums für jedermann. Das ist der Grund, warum sich Liberale für Freiheit einsetzen, die offenkundig nicht nur wirtschaftlich sein kann, und von jedermann zustimmungsfähig sein sollte. Der Liberalismus zielt auf die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, also darauf, willkürlichen Zwang durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen. Er verwirklicht dieses Ziel im Rahmen der freien Gesellschaft und mit der freien Marktwirtschaft als ein wesentlicher Bestandteil durch zunehmende Kooperation der Menschen, die mit wachsender Spezialisierung und intensiviertem Austausch einhergeht.
Das Recht bildet den Rahmen für die Erhaltung der freien Gesellschaft, indem solche Regeln für verbindlich erklärt und mit Machtmitteln durchgesetzt werden, die zwischen den sich selbstbestimmenden Einzelnen Verkehr und Kooperation zum gegenseitigen Vorteil schaffen.
Dazu ist die innere Freiheit Voraussetzung.
Die Entfaltung der inneren Freiheit – Aufklärung
Aufklärung nennt Kant den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.6 Es ist ein Akt der geistigen Selbstbefreiung, das, was Wilhelm von Humboldt Bildung genannt hat. Voraussetzung der inneren Freiheit ist also die geistige Selbsttätigkeit und die Abwesenheit von geistigem Zwang: Denkfreiheit (Abwesenheit von geistigem Zwang) bedeutet die Freiheit der Meinungsäußerung, Informationsbeschaffung und Verbreitung, Freiheit der Forschung und des künstlerischen Ausdrucks, der Freiheit der Religion und Weltanschauung.
Der Liberalismus sieht in dem Zusammenspiel von innerer und äußerer Freiheit das Prinzip des menschlichen Fortschritts. Es ist kein arbiträres ideologisches Werturteil und rein subjektiv, vielmehr von universeller Gültigkeit, weil es auf der Selbstbestimmung des Menschen fußt.
Exkurs: Denkfreiheit und materialistischer Determinismus
Ist unser Wollen von seinen Voraussetzungen her determiniert und damit unfrei? Man hat versucht, das Denken als ein Produkt der Denkmaschine Gehirn zu deuten. Aber das ist völlig irreführend. Eine Maschine produziert genau das, was der Konstrukteur gewollt hat. An ihrer Beschaffenheit lässt sich gedanklich nachvollziehen, wozu sie taugt und was sie folglich tut. Sie ist vollkommen determiniert. Aber ist es auch der Plan des Konstrukteurs?7
Anders ein Datenträger. Wir können aus einem Datenträger die Daten ablesen, sagen wir die Einsen und Nullen eines digitalen Codes. Doch was sie bedeuten, lässt sich nicht nachvollziehen. Für einen digitalen Analphabeten ist jede CD ähnlich. Selbst, wenn wir sie in analoge Frenquenzbilder übertragen, so lässt sich daran zwar eine Ordnung erblicken, etwa ein Rhythmus oder eine Orchestrierung, aber noch nicht eine Melodie oder Harmonie. Zeichen müssen gedeutet werden, decodiert. Erst wenn die Zeichen erklingen, können wir diese akustische Reize in musikalischen Sinn übertragen, decodieren. Die Musik ist erst bedeutend, wenn sie im Innern erklingt.
Die Bedeutung der Information und die Form der Information sind nicht einidentisch und auch nicht analog. Das T im „Tisch“ bedeutet nicht Tisch, es ist bedeutungslos. Und auch die Lautfolge T, I, SCH hat formal nichts vom Tisch an sich, sondern repräsentiert ihn in einer Zeichenkombination. Dass diese Kombination diese Bedeutung hat (und nicht ist), ist eine schon vorhandene Konvention, (Hayek würde sagen, verstreutes Wissen), die nicht im Wort transportiert wird. Erst als Forscher auf einem Stein Hieroglyphen und griechische Schriftzeichen zugleich entdeckten, konnten durch Vergleich mit dem verstehbaren Griechisch die Hieroglyphen entschlüsselt werden, nämlich durch Bedeutungsübertragung. Ohne den Stein von Rosette wüssten wir nicht, was uns die Zeichen sagen wollen. Bedeutung ist eine Verbindung zwischen Informationen, nicht das Zeichen selbst.
Wir können daher aus dem physiologischen Zustand des Gehirns direkt keine Bedeutungen entnehmen, so wenig wie aus einem uns fremden digitalen Code oder aus Hieroglyphen, wenn wir keinen Schlüssel dazu besitzen, wenn wir also die Bedeutungsmöglichkeiten nicht unabhängig schon vorher kennen. Aber auch dann, wenn wir physiologische Befunde wie Zeichen differenzieren können, haben wir noch nichts begriffen. Es sind rätselhafte Hieroglyphen. Und weiterhin ist unklar, ob die Bits und Bytes unserer Neuronen wie Magnetspeicher codiert werden, also ob das Gehirn wie ein Buch angefüllt mit Buchstaben ist, oder nicht. Es kann noch viel komplizierter sein. Daher ist die Annahme, dass die Beschaffenheit des Gehirns in mechanischer Weise den Inhalt von Gedanken determiniert, irrig. Der Datenträger denkt nicht. Er speichert nur den Gedanken. Das Gehirn ist keine Denkmaschine wie ein Computer, der Programme ausführt, die der Programmierer ihm eingeschrieben hat. Das Gehirn denkt nicht, es wird mit ihm gedacht. Ich bin es, der denkt. Wie wir auf eine CD unterschiedliche Musik speichern können, so können wir mit denselben Gehirnzellen Unterschiedliches denken. Das Gehirn ist in hohem Maße formbar, universell und unser Denkwerkzeug, nicht das Denksubjekt.
Wir wissen noch nicht gut, wie Denken physiologisch und informationstheoretisch funktioniert. Es ist gewiss ein vielschichtiger und rückgekoppelter Prozess. Es sind gewiss selbstreflexive Vorgänge, Denken über gedachte Inhalte. Immer denken wir uns das Denken in einem aktiven subjektgesteuerten Vorgang. Ich denke. Dieses Ich ist die Denkinstanz, der Herr des Gedankens. Aber es muss ja selbst eine Idee sein. Es muss eine Instanz des geistigen Vorganges sein, in dem das Denken geschieht, und es wird wahrscheinlich im Gehirn lokalisierbar sein.
Bedeutung ist Form, nicht Materie. Information ist der Unterschied (der Form), der im geistigen Prozess zu Unterscheidungen (anderer Form) genommen wird und eine Veränderung (Formung) bewirkt. In-formation ist Umformung. Bedeutung ist informationell, ist geistig. Geist kann Neues erschaffen. Die Materie kann sich nur umwandeln, indem sie mit sich identisch bleibt. Ein Stein ist ein Stein, aus einem Weizenkorn wächst ein Weizenhalm und aus einem menschlichen Ei ein Mensch. Aber die Idee zeugt neue Ideen, indem sie eine Form mit einer vorhandenen Idee verknüpft und damit die Bedeutung verschoben hat. Die Form unterliegt nicht den Kausalgesetzen der physikalischen Materie. Geist ist bedingt, aber nicht determiniert. Materie ist passiv, Geist ist aktiv.
Alle materialistisch-monistischen Deutungsversuche führten in die Sackgasse des Determinismus,8 weil sie aus einer Kette von Ursache-Wirkungszusammenhängen nicht herausspringen können. Nur dualistische Modelle, die das Denken von außen analysieren, lassen die Idee der Denkfreiheit zu. Von außen lässt sich durch Beobachtung der Gehirntätigkeit nicht entschlüsseln, weil die Bedeutungen und die Zeichen nicht zusammenfallen. Determiniertes Denken ist noch nicht experimentell beobachtet worden und kann aus besagtem Grund wahrscheinlich auch nicht beobachtet werden. Niemand kann bis heute vorhersagen, welche Alternative ein Mensch unter bestimmten Bedingungen wählen wird, noch nicht einmal der denkende Mensch selbst, bevor er gewählt hat. Bis dahin, so lange wir dies nicht können, ist es naheliegend anzunehmen, dass das Denkergebnis nicht in mechanistischer Weise determiniert ist.
1 Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen, 4. Aufl. 2005, S. 13f.
2 Hayek: ebd., S. 171 ff.
3 Das Essay wurde angeregt durch den Vortrag vom 6. Mai 2015 Julian Arndts vor der ESFL Heidelberg zum Thema: „Sind wir Menschen wirklich frei?“
4 Hayek: ebd., S. 171.
5 Mises: Nationalökonomie, Genf, 1940, S. 11 ff.
6 Kant: Was ist Aufklärung? Stuttgart, 1974, S. 9. (Hervorhebung von mir.)
7 „Ein Stein ist ein Ding, das immer in einer bestimmten Weise reagiert. Menschen reagieren auf Impulse in verschiedener Weise, und der gleiche Mensch kann zu verschiedenen Zeitpunkten auf eine Weise reagieren, die sich von früherem oder späterem Verhalten unterscheidet.“ Vgl. Mises: Theorie und Geschichte, München, 2014, S. 64.
8 Vgl. Rolf W. Puster: „Dualismen und Hintergründe“, Hinführung zu Mises: Theorie und Geschichte, München, 2014, S. 37 ff.